Undoing Gender

Mit „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ liefert Judith Butler einen Kompass durch die Queer-Theorie

Es ist ziemlich schwierig, Unordnung in den vom Körper abstrahierenden männlichen Theorien und Wissenschaftssystemen zu stiften …
Klaus Theweleit: „Männerphantasien“


Judith Butler is back – und hat ein ganzes Bündel an Theoremen mit im Gepäck. „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ („Undoing Gender“) hatte der Suhrkamp Verlag bereits vor zwei Jahren verlegt. Nun erscheint der Aufsatzband als Paperback und da Butlers Überlegungen keineswegs überholt sind, ist er die Besprechung auch heute absolut wert.

Gender-Debatte, Endlos-Debatte? Nun könnte man einwenden, dass sich seit Butlers einflussreicher Studie „Gender Trouble“ (Deutsch: „Das Unbehagen der Geschlechter“), die immerhin bereits 1990 erschien, viel getan hat. Die „sex/gender“-Unterscheidung, wobei „sex“ die biologischen und physischen Geschlechtsmerkmale meint, während „gender“ auf die sozial konstruierte Rolle referiert, und der Begriff „queer“ haben inwzischen allgemeine Verbreitung gefunden. Frauen-Quote, Gender-Mainstreaming, Girls Day: Was soll denn noch alles kommen, ist die Emanzipation nicht längst erreicht? Leider nicht – und es lassen sich gleich mehrere Einwände erheben.

Zweigeschlechtlichkeit ist ideologisch

Erstens ist noch nicht jeder dahinter gekommen, dass Emanzipation als Prozess individueller Freiheit unabschließbar sowie nicht auf die Kategorie „Frau“ beschränkt ist. Zweitens und grundlegender: Auch die soziale Konstruiertheit von Geschlechterrollen und -erwartungen wird noch immer nicht erkannt. So reessentialisieren gerade Gender-Mainstream-Programme wie jenes vom Bundesfamilienministerium die Geschlechterrollen, wie der Politikwissenschaftler Stefan Kausch in „Die Regierung der Geschlechterordnung“ dargelegt hat. [1] Andere, und da muss man gar nicht erst bis auf Positionen so genannter Männerrechtler schielen, lehnen die „sex/gender“-Unterscheidung und ihre Implikationen rundweg ab. „Diese Ideologie wird als ‚wissenschaftlich’ verkauft und auf staatlicher Ebene von oben nach unten implementiert,“ sagte etwa der Autor Maternus Millett kürzlich in einem Telepolis-Interview, „indem die Geschlechterrollen ‚dekonstruiert’ werden, d. h. politisch gewollt Geschlechtsverwirrung gestiftet und heterosexuelle Geschlechtsidentitäten zerstört werden sollen. Es handelt sich hier um einen gesamtgesellschaftlichen Groß-Menschenversuch mit ungewissem Ausgang, eine Sozial-Großtechnologie ohne wissenschaftliche Folgenabschätzung.“ Es sei „zu beobachten, dass heterosexueller Geschlechtsverkehr immer seltener stattfindet und dass sich die Geschlechter auch physisch aneinander angleichen, bei abnehmender Fruchtbarkeit und zunehmender Vereinzelung, sexueller Frustration und Impotenz nicht nur bei Männern.“ [2] Dass es sich bei der „natürlichen Zweigeschlechtlichkeit“ eben keinesfalls um etwas Unideologisches handelt, kommt nicht nur ihm ob des naturalistischen Fehlschlusses nicht in den Sinn. Und weil gendermotivierte Gewalt wie Hass auf Homosexuelle weiterhin stattfindet, kann schon gar nicht von einer Gleichrangigkeit der Lebensweisen gesprochen werden.

Judith Butler (Foto: privat)

Es gibt also viel zu tun und Butler geht’s an. Dabei erweist sich allein schon die Einleitung ihres Aufsatzbandes als lesenswert. Denn hier gibt die Autorin, deren sprachlicher Stil in der Vergangenheit nicht immer durch barrierefreie Verständlichkeit glänzte, eine glasklare Übersicht über die Topographie ihres Denkens und Arbeitens. Sie legt ihre Position dar, skizziert das weite Feld der Queer- und Gay-Aktivisten und zeigt die Gemeinsamkeiten der divergierenden politischen Ansätze auf. So argumentiert Butler, dass die queere Kritik an einer eindeutigen Geschlechtsidentität gerade nicht gegen trans- oder intersexuelle Menschen gerichtet sein muss, schließlich geht es der Kritik nicht um individuelle Lebensentwürfe, sondern um gesellschaftliche Normierungen. Butler thematisiert auch das Dilemma, in dem sich die Queer-Bewegung hinsichtlich der so genannten Homo-Ehe befindet, und erklärt, dass man sowohl für diese staatlich sanktionierte Partnerschaft als Toleranz-Signal in einer heteronormativen Gesellschaft eintreten kann, aber zugleich die Ehe als einzige zulässige Form des Zusammenlebens kritisieren kann, ist sie doch ein Ursymbol der heterosexuellen Matrix. Zusammen mit dem im Band enthaltenen Text „Das Ende der Geschlechterdifferenz?“, in dem sich Butler bilanzierend auch noch einmal mit Kritiken und Entgegnungen beschäftigt, wird die Einleitung so zu einer guten Einführung in die Queer-Theorie, in doing und undoing Gender. „Wenn Gender eine Art von Tun ist, eine unablässig vollzogene Tätigkeit, die zum Teil ohne mein eigenes Wissen und ohne eigenes Wollen abläuft, ist es aus dem Grunde nicht schon automatisch oder mechanisch. Im Gegenteil, Gender ist eine Praxis der Improvisation im Rahmen eines Zwangs. Außerdem ‚spielt’ man seine Geschlechtsrolle nicht allein. Man ‚spielt’ immer mit oder für einen anderen, selbst wenn dieser nur vorgestellt ist. Was ich als das ‚eigene’ Gender bezeichne, erscheint manchmal als etwas, dessen Urheber ich bin oder das ich sogar besitze. Die Bedingungen, die das eigene Gender kreieren, liegen jedoch von Anfang an außerhalb meiner selbst, wurzeln außerhalb meiner selbst in einer Sozialität, die keinen einzelnen Urheber kennt“.

Wer oder was ist ein Mensch?

Die anderen Beiträge behandeln verschiedene Themen queerer Theorie und Politik. Ob Verwandtschaft per se heterosexuell ist, welchen Gender-Regulierungen die Menschen ausgesetzt sind respektive nach welchen sie sich selbst ausrichten und in welcher Form man Anerkennung erfassen kann, sind einige von Butlers Fragen. Die aus Rezensentensicht spannendsten Beiträge lassen sich inhaltlich enger miteinander verknüpfen. In „Außer sich: Über die Grenzen sexueller Autonomie“ lautet die Kernfrage, wer oder was eigentlich als Mensch gilt. Butler zeigt, dass die Ablehnung des Humanismus nicht in Unmenschentum mündet – dem Vorwurf war bereits Michel Foucault ausgesetzt, an den Butler in vielen Punkten anknüpft –, sondern dass der im Humanismus formulierte Begriff des Menschen ein sehr enges Konzept ist, das männlich, weiß etc. als Idealbild beziehungsweise als Normalfall erachtet. Aber Lebensformen wie „Drag, Butch, Femme, Transgender […] veranlassen uns nicht nur, zu hinterfragen, was das Reale ist und sein ‚muss’, sondern sie zeigen uns auch, wie die Normen, welche die zeitgenössischen Vorstellungen von Realität bestimmen, in Frage gestellt werden können und wie neue Formen von Realität eingeführt werden können. Diese Praktiken zur Einsetzung von neuen Formen der Realität vollziehen sich zum Teil über die Szene der Verkörperung, wo der Körper nicht als eine statische und vollendete Tatsache angesehen wird, sondern als ein Alterungsprozess, eine Form des Werdens, die die Norm des Anders-Werden überschreitet, die Norm umgestaltet, und uns erkennen lässt, dass die Realitäten, zu denen wir uns verurteilt glaubten, nicht eingemeißelt sind.“ Letztlich, so Butler, gilt es, die Ontologie des Menschlich-Seins neu zu denken und zu gestalten.

Der Selbstverständlichkeit binärer Geschlechter die Plausibilität nehmen

Dass Theorie nicht aller Probleme Lösung ist, weiß auch Butler, allerdings schreibt sie dieser trotzdem eine verändernde Kraft zu. „Die Frage nach der sozialen Veränderung“ stellt sich aber auch hinsichtlich der Interventionen. Denn dem Queer-Begriff nach geht es – aller Vereinnahmung in der Popkultur zum Trotz – immer um mehr als dem Weiße-Frau-Mittelklasse-Feminismus eines vermeintlichen Alpha-Mädchens. Er bedeutet eben nicht, den Körper der Frau und die Frau als Phänomen festzuschreiben und Eigenschaften zuzuweisen, die sie eben kommunikativer machen als „den“ Mann und sozialer, um dann von „weiblichem Management“ zu fantasieren. Ein solcher Differenzfeminismus zementiert schließlich nur den Gender-Dualismus, versetzt die Geschlechterverhältnisse ganz und gar nicht in Bewegung und lässt darüberhinaus andere Lebensweisen nicht beziehungsweise nur als „unnormal“ zu. Dieser Selbstverständlichkeit binärer Geschlechter, die in ihrer Konsequenz zu ungleichen Rechten führt, gilt es für Butler weiterhin ihre „natürliche“ Plausibilität zu nehmen. Gender ist performativ und kann somit Normen bestätigen, sie aber auch leise infrage stellen. „Obwohl es Normen gibt, die bestimmen, was real zu sein hat und was nicht, was intelligibel zu sein hat und was nicht, werden diese Normen in dem Moment in Frage gestellt und wiederholt, in dem die Performativität mit ihrer Zitierpraxis beginnt.“ „Es geht“, so Butler, „darum, im Recht, in der Psychiatrie, in der Sozialwissenschaft und der Literaturtheorie ein neues legitimierendes Lexikon für die Genderkomplexität zu entwickeln, die wir immer schon gelebt haben.“ Butler will keinen, einem postmodernen Spieltrieb folgenden Kostümfasching veranstalten, wie Kritiker ihr entgegenhalten, sondern anderen, längst existierenden Lebensweisen zur Er- und Anerkennung zu verhelfen.

Hierzu ist auch der Wissenschaftsbetrieb zu hinterfragen, wie Butler mit leicht polemischen Ton in „Kann das ‚Andere’ der Philosophie sprechen?“ feststellt. Sie wundere sich, und das betrifft nicht nur, aber insbesondere die anglophone Philosophie, warum so viele spannende Philosophierende gerade nicht an den philosophischen Lehrstühlen zu finden sind, sondern in der Literaturwissenschaft, der Anthropologie, den Cultural Studies. Dort findet sie produktives Denken, kritische Theorien, vor der sich die akademische Philosophie zu oft verschließe. Diese Feststellung trifft auch auf Butler selbst zu, die über Hegel promovierte und an einem philologischen Lehrstuhl arbeitet.

Ein bisschen Unordnung im Wissenschaftsbetrieb kann sicherlich nicht schaden, damit es jenseits des Inter- und Transdisziplinärmantras zu intensiverer Befruchtung als bisher kommt. Das scheint nicht nur hinsichtlich der Aufhebung der normierenden Geschlechterdifferenz angebracht, stellt sich aber momentan eher als Gedankenspiel dar. Mehr und mehr unter die Räder der Vernutzung gekommen, wird von der Wissenschaft derzeit nicht viel emanzipatorisches Potenzial zu erwarten sein. Von Einzelstimmen wie der Judith Butlers einmal abgesehen. So erteilt sie mit ihrem Buch gerade keine Handlungsanweisung, aber argumentatives Futter und gibt wie nebenbei noch eine gute Einführung ins Unbehagen der Geschlechter. So wird der Aufsatzband zum kleinen Kompass durch die schwierigeren Fahrwasser der Queer-Theorie und führt entlang einiger Argumentationslinien der Gender-Aktivisten – und das in größtenteils verständlicher Ausführung.

(1) Vgl. Tobias Prüwer: „Uneingelöstes Versprechen“
(2) Eren Güvercin interviewt Maternus Millett:
„Früher herrschten die Gewalttäter, heute herrschen die Wohl-Täter“

Judith Butler:
Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen

Suhrkamp

Frankfurt am Main – 2011

414 S. – 15 Euro


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