Menschen zu Schornsteinen

Interpretierte Wirklichkeit: Der Gropius-Bau in Berlin zeigt eine Retrospektive des Fotografen André Kertész

Zerbrochene Scheibe, Paris, 1929 [printed for the first time by André Kertész in 1964] Silbergelatine-Abzug Gedruckt in den 1970er Jahren Courtesy Attila Pocze, Vintage Galéria, Budapest, Hungary

Die zwei Personen im Bild – eine Frau und ein Mann – kehren dem Betrachter den Rücken zu und halten stattdessen die Gesichter an einen Bretterzaun gelehnt, wohl, um durch ein Loch hindurch zu spähen. Sie trägt ein helles, seidenes Kopftuch, er einen ebenso hellen Strohhut. Kopftuch und Strohhut heben sich beide vom dunklen Zaun und der dunklen Kleidung ab. Der Zaun wird unten vom hellen Sand des Weges eingefasst, auf dem beide stehen, oben von einem hell gestreiften Tuch, welches am Zaun befestigt ist. Den Anreiz für beide, durch das vermeintliche Loch im Bretterzaun zu spähen, erfahren wir aus dem Bildtitel: Zirkus. Was das Paar genau erblickt, überlässt Kertész den Fantasien des Betrachters.

An diesem Foto von André Kertész (1894-1985) aus dem Jahr 1920 kann man die Vorgehensweise des Künstlers sehr gut beobachten: Wichtige Linien in der Komposition verlaufen parallel zum Bildrand, der Aufbau ist klar strukturiert. Die Spannung im Bild erzeugt Kertész durch Hell-Dunkel-Kontraste, Strukturen und inhaltliche Andeutungen. Die nicht vorhandene Horizontlinie beraubt den Betrachter der Möglichkeit, sich einen Überblick über die räumliche Situation zu verschaffen. Kertész zieht ihn auf diese Weise ins Bild hinein und lässt ihn unmittelbar teilhaben an den Situationen, die er beobachtet und die er poetisch und assoziativ wie streng komponiert festzuhalten weiß.

Arm und Ventilator,1937 Silbergelatine-Abzug Gedruckt in den 1940er-1950er Jahren Sammlung Eric Cepotis und David Williams

Die Ausstellung im Gropius-Bau in Berlin, die noch bis zum 11. September zu sehen ist, präsentiert eine Retrospektive des Werkes André Kertész’: Die frühen Aufnahmen der 1910er Jahre in Ungarn, das Schaffen in Paris ab Mitte der 1920er Jahre, Auftragsarbeiten für Magazine und Publikationen, die Zeit in Amerika Mitte der 1930er Jahre bis in die 1960er Jahre und schließlich die späten Arbeiten. Die chronologische Präsentation der Fotografien verhindert allerdings eine assoziative Betrachtung der Arbeiten und das Erkennen der Stringenz der sich durch alle Schaffensphasen ziehenden Kompositionsschemata und Themen. Das menschliche Pärchen, was noch 1920 durch den Bretterzaun lugt, ist in der Aufnahme Schornstein, Figur, Feuerleiter von 1969 wieder anzutreffen – in Form der beiden nebeneinander stehenden Schornsteine. Auch hier ist dem Betrachter der Ausblick verwehrt, der sich den beiden Schornsteinen entlang der Feuertreppe präsentiert, auch hier das Spiel mit dem Kontrast von hellen und dunklen Elementen, auch hier die strenge Komposition. Man könnte meinen, die unterschiedlichen Bildgegenstände der einzelnen Schaffensphasen gingen ineinander auf, indem Kertész formale Elemente wiederholt: Das Rockefeller Center von 1937 wird zu einer Gruppe von Menschen unter Regenschirmen in der Aufnahme Regentag von 1968, die Ellipsen der Metallkonstruktion des Eiffelturmes, Paris im Bild von 1929 finden sich in den Spuren im Schnee in der Aufnahme des Washington Square aus dem Jahr 1966 wieder.

Die sich wandelnden Motive und die unterschiedlichen künstlerischen Einflüsse auf Kertész’ Werk (zum Beispiel des Surrealismus in den 1920er Jahren) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er bereits in frühen Arbeiten um seine eigene Interpretation der Wirklichkeit gewusst und sich stets an ihr orientiert hat. Kertész zeigt dem Betrachter keine Dokumentation der Wirklichkeit. Die Bildgegenstände kehren diesem vielmehr den Rücken zu und er muss sich sein eigenes Bild durch ein Loch im Zaun erschließen.

André Kertész – Fotografien

Berliner Festspiele. Eine Ausstellung des Jeu de Paume, Paris.
In Zusammenarbeit mit dem Martin-Gropius-Bau.

11. Juni – 11. September 2011, Martin-Gropius-Bau, Berlin


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