Endlosschleifen im Wartesaal des Lebens

Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2011, Platz 2 für Ingo Rekatzky – Die Oper Leipzig zeigt zur Saisoneröffnung Tschaikowskis „Eugen Onegin“ in der Regie von Peter Konwitschny

Sänger Marika Schönberg, Norman Reinhardt, Pavol Remenár und Claudia Huckle (Fotos: Andreas Birkigt)

Ein paar Wartende in einer tristen Halle. Wohl eher zufällig an diesen Ort geworfen vertreiben sie sich die Zeit, lesen Zeitung, stricken oder wagen einen letzten Tanz. Die Stille wird von einem Betrunkenen durchbrochen, der schreiend zu Boden fällt, offensichtlich nicht zum ersten Mal. Eine Putzkolonne wischt routiniert um ihn herum, den Übrigen ist es kaum eine Notiz wert. Ziellos räumen sie mit der einsetzenden Ouvertüre den Platz für die Nachfolgenden. Mit diesem Prolog verweist Peter Konwitschny bereits auf das Hauptanliegen seiner Inszenierung von Tschaikowskis Eugen Onegin, die am 9. September 2011 die neue Saison der Oper Leipzig eröffnet hat: Ein verschiedene Gesellschaften überdauernder Kreislauf, in dem die Einzelnen immer wieder auf der Suche nach sich selbst sind – und letztendlich doch nicht ankommen.

In Tschaikowskis »Lyrischen Szenen«, die auf Puschkins mitunter zynisches Versepos Eugen Onegin zurückgehen, wird gerne das Klischee der gepflegten Melancholie russischer Seele bedient. Gediegene Salons vor weiten Birkenwäldern sorgen bei aller Schwermut für eine anheimelnde Atmosphäre. Konwitschny und sein Ausstatter Johannes Leiacker begnügen sich allerdings keinesfalls mit diesen illusionären Genrebildern. Ein leerer, tiefer Raum, dessen Treppe in der Rückwand nicht von ungefähr an die Hallen des Leipziger Bahnhofes erinnert, strahlt eine Eiseskälte aus. Empire-Sessel markieren in diesem Wartesaal des Lebens ein System, das sich selbst längst überdauert hat. Vom Chor der Landarbeiter wird ein geschlagener Birkenstamm hereingetragen und wie ein abgestorbener Maibaum aufgestellt – das Symbol der sich erneuernden Natur ist nur noch ein Stück Totholz, an dem die Protagonisten aber immer wieder Halt suchen. Da sind zum einen Tatjana und Olga, die Töchter der Gutsbesitzerin Larina. Obwohl dem Kindesalter kaum entwachsen, haben beide konkrete Vorstellungen von einem erfüllten Leben: Olga, die jüngere, konzentriert sich nur auf das Hier und Jetzt, wohingegen sich die introvertierte Tatjana ihre Ideale aus Büchern angelesen hat, die ihr Zufluchtsort sind. Larina und die Amme Filipjewna schwelgen stattdessen nur noch in der Vergangenheit, der Wodka scheint einiges in ihrer Erinnerung zurechtgerückt zu haben. Kein Wunder also, dass der Besuch des Dichters Lenskij, Olgas Verlobtem, eine willkommene Abwechslung ist, zumal er seinen Freund Eugen Onegin mitbringt. Der hat gerade eine Erbschaft angetreten, weiß hiermit allerdings nicht so recht etwas anzufangen. Trotzdem glaubt Tatjana, in Onegin den Mann ihrer Träume zu erkennen. Die Inszenierung entfaltet im nachfolgenden Quartett einen Augenblick des Glücks, weist aber auch auf dessen Fragilität hin: Die gemeinsame Vertrautheit ist stets gefährdet, da die quirlige Olga und der eifersüchtige Lenskij keinen gemeinsamen Nenner finden, Onegin in seiner Ziellosigkeit verharrt und Tatjana ihre Wünsche nicht behaupten kann. So bemerkt sie auch nicht, dass ihre Idealvorstellungen der Realität nicht standhalten: Wie in Trance gesteht sie Onegin ihre Liebe in einem Brief, den sie postwendend zurückerhält. Gönnerhaft legt er nach durchzechter Nacht den Brief in eines ihrer Bücher und erklärt, dass er Tatjana zwar verehre, aber ihre Vorstellungen vom Leben zu verschieden sind.

Tanz mit dem toten Lenskij

Doch auch Onegin ist aller persönlichen Schwächen zum Trotz nur Kind seiner eigenen Verhältnisse. Auf dem Ball zu Tatjanas Namenstag werden beide von den voyeuristischen Gästen bloßgestellt. Mag ein überdimensionierter Lampion-Mond noch so gütig über dem Fest lächeln, der Sänger Triquet spielt in seinem Couplet frivol mit dem Brief und gibt ihr Geheimnis der Öffentlichkeit preis. Mehr aus Langeweile tanzt Onegin darauf mit Olga und provoziert so Lenskijs Forderung um Satisfaktion. Kurz vor dem Duell gewährt Konwitschny den beiden noch die Versöhnung, ihre Umarmung wird aber jäh unterbrochen. Sie werden von den Chorherren eingekesselt, die sozialen Konventionen fordern Lenskijs Tod. Die sich unmittelbar anschließende Polonaise, eigentlich Introduktion des dritten Aktes, wird hier zu einer Schlüsselszene von äußerster Intensität: Verzweifelt ob seiner Tat tanzt Onegin mit dem Toten, die Leiche liegt ihm fortan auf dem Gewissen.

Zu spät reift die Erkenntnis, dass er nicht nur seinen einzigen Freund verloren hat. Nach Jahren ziellosen Reisens trifft er auf einem Ball Tatjana wieder – doch die ist inzwischen Fürstin Gremina und wird von ihrem Gatten, dem Kriegsveteranen Gremin, wie eine Jagdtrophäe in der Staatsratsloge präsentiert. In Onegin erwachen die Gefühle, die er sich damals nicht eingestehen wollte. Auch Tatjana liebt ihn nach wie vor, beiden bleibt aber nur ein verschwindender Moment des Glücks. Sie verfällt wieder in jene Sozialrolle, die sie sich nach der Enttäuschung selbst auferlegt hat, und spielt sie mit Haltung. Onegin bleibt nichts, als sich nach ihrer Entsagung in die Masse der Gesichtslosen einzureihen, während Tatjana apathisch den Brief zerreißt.

Obwohl Konwitschnys Sicht des Eugen Onegin bereits 1995 ihre Premiere in Leipzig hatte und damals den Nerv der Nachwendezeit traf, ist sie keineswegs in die Jahre gekommen. Eher im Gegenteil: Handwerklich ist die äußerst genaue Personenregie auch nach zahlreichen Umbesetzungen über jeden Zweifel erhaben. Die subtilen Bilder sind von einer Eindringlichkeit, der sich das Publikum nur schwer zu entziehen vermag. Und die Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft ist wohl brisanter denn je, selbst wenn der Dandy aus Tschaikowskis Zeiten heute eher dem so genannten akademischen Prekariat zuzurechnen wäre. Auf derartige Aktualisierungen ist die Inszenierung aber nicht angewiesen, sie überzeugt vielmehr durch ihre Reduzierung auf das Wesentliche: Das Beziehungsgeflecht der Protagonisten, die aus ihren tradierten Strukturen nicht ausbrechen können. Mögen sich auch die gesellschaftlichen Systeme verändert haben, das Problem der Selbstverwirklichung bleibt virulent.

Sicher lässt sich darüber streiten, ob die deutsch-russische Textfassung, in der Tschaikowskis Oper in Leipzig gespielt wird, trotz ihrer dramaturgischen Schlüssigkeit noch zeitgemäß ist: Abgesehen davon, dass die Übersetzung Artikulation und Phrasierung eher erschwert, wird in der Symbiose aus szenischem Spiel und Musik ohnehin viel mehr vermittelt. Und die bewegt sich für eine Repertoire-Vorstellung auf erstaunlichem Niveau, wofür auch Matthias Foremny Sorge trägt, der am Pult des bestens disponierten Gewandhausorchesters seinen Einstand als Erster ständiger Gastdirigent der Oper Leipzig gibt. Foremnys transparentes Dirigat besticht durch Sängerfreundlichkeit, kostet aber Tschaikowskis Klangfarben aus und setzt vor allem in den Tänzen eigene Akzente. Als Idealbesetzung erweisen sich die Protagonisten: Pavol Remenár gestaltet die Titelpartie mit kultiviertem Bariton und verleiht dem Onegin eine noble Erscheinung, ohne Zwischentöne wie seine Bindungsangst oder innere Zerrissenheit auszublenden. Allerdings unterstreicht die Inszenierung auch, dass ohnehin Tatjana mit ihrer Wandlung vom schwärmerischen Mädchen zur abgeklärten Fürstin die heimliche Hauptfigur ist, was Marika Schönberg facettenreich bestätigt. Ob dramatische Höhe oder eher lyrische Mittellage, sie punktet in allen Registern und verfügt nicht nur stimmlich über die nötigen Reserven für die anspruchsvolle Briefszene: Schönberg füllt von dem Steg vor dem Orchestergraben die fiebrige, bald fünfzehnminütige Arie auch schauspielerisch ohne falsches Pathos aus. Claudia Huckle setzt mit warmem Timbre einen Kontrapunkt als lebenslustiger Backfisch Olga, während Norman Reinhardt in der Arie vor dem Duell klangschön aufzeigt, dass auch Lenskijs Anspruch, seinem eigenen Selbst treu zu bleiben, nur eine Chimäre war. Unter den Nebenrollen treten vor allem Karin Goltz als pointierte Amme, Milcho Borovinov als sonorer Gremin und nicht zuletzt Viktor Sawaley hervor, der den windigen Triquet bereits bei der Premiere 1996 gesungen hat. Der Leipziger Opernchor präsentiert sich in der Einstudierung von Stefan Bilz gewohnt souverän, übertrifft sich aber in seiner gewohnten Spielfreude noch einmal selbst.

Der immense Jubel im nicht gerade übermäßig besetzten Saal zeigt, dass dieser Eugen Onegin das Publikum nach wie vor auf einer elementaren Ebene erreicht und Fragen aufgreift, die sich jeder schon einmal gestellt hat. Nicht abwarten, hingehen – weitere Vorstellungen sind in dieser Spielzeit am 18.9., 1.1., 13.1. und 15.4.

Eugen Onegin

von Peter I. Tschaikowski

Lyrische Szenen in drei Akten

Text vom Komponisten und Konstantin Stepanowitsch Schilowski nach Puschkin

Musikalische Leitung: Matthias Foremny

Inszenierung: Peter Konwitschny

Premiere: 9. September 2011

Rückblick auf die Verleihung des Friedrich-Rochlitz-Preises für Kunstkritik 2011

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