Hosen runter, Scheinwelt!

Menschsein unter erschwerten Bedingungen – der Internationale Wettbewerb der 54. Dokwoche erschüttert mit der Bloßstellung offensichtlicher und verborgener Unfreiheiten der Gegenwart

„Work Hard, Play Hard“ (Bild: Hupe Film)

Kerzengrade stehen sie da, diese Männer im Wald. Im Alltag gehen sie ihrer Arbeit in durchgestylten, Open-Room-optimierten Bürolandschaften nach. Doch heute trägt jeder von ihnen eine schwere Bergsteigermontur, ihre Augen sind verbunden und in ihrem Mund wandert einen Lolli hin und her. Solche, die man als Kind gern gegessen hat. Die Männer werden von einem alten Mann dazu aufgefordert, Balken hinabzuspringen, durch einen Fuchsbau zu kriechen und eingepfercht in engen Gängen nach diffusen Aufgaben zu suchen. Es ist keine Gameshow, die der Besucher der 54. Dokwoche in Leipzig zu sehen bekommt, sondern ein Ausschnitt des Filmes Work Hard, Play Hard. Über Monitore beobachtet der alte Antreiber die Gruppe und mahnt wie der Oberlehrer auf der Klassenfahrt: Erst durchs Pfeifchen trillern, bevor ihr miteinander sprechen dürft!

Das ist eine von vielen absurden Tragödien in Carmen Losmanns schockierendem Blick auf die deutsche Arbeitswelt. Dabei bleibt die Kamera stets ein wacher, klarer Beobachter. Nur die O-Ton-Geber, meist führende Firmenköpfe, scheinen das oftmals nicht zu bemerken. Natürlich erinnert die Bildgestaltung an einen Werbefilm – die Inszenierung der sündhaft teuren Architektur, makellos gekleidete Businessleute, Lächeln auf allen Seiten, die Anpreisung von Konzepten, deren Bezeichnungen im Ohr schmerzende Anglizismen sind. Doch Work Hard, Play Hard ist ein lauter Schrei, der sagen will: „Das ist die falsche Richtung!“ Der Film enthüllt die Mentalität der Leistungsgeilheit. Und über allem thront der Götze Perfektionismus, dieses menschenfressende Ungeheuer, das die Betriebe und Köpfe längst infiziert hat und die Arbeit zu einem qualvollen Dauerprüfstand macht. Und dieser hat durchaus Nutznießer.

Denn Assessment-Center haben sich empor geschwungen, den nonkonformen Mitarbeiter so wie eine humpelnde Giraffe aus dem Zirkus werfen zu können. Und das Fünkchen Selbstständigkeit, welches selbst der Student in der Bachelor- und Master-Verschulung nur noch mit Mühe lernt, wird sogleich wieder durch Controlling und andere Verbiegungsmaßnahmen erstickt.

„Special Flight“ (Bild: Look Now!)

Auch eine über die Jahrzehnte an Berufserfahrung reiche Frau muss sich in einer beklemmenden Interviewsituation von einer sogenannten Personalerin mit selbstgefälligem Grinsen sagen lassen, was sie an ihren persönlichen Defiziten zu ändern habe, worüber sie sich einmal Gedanken machen solle und dass ihr Lachen bisweilen irritiere. Und vor lauter gefeiertem Arbeitsplatztransparenzpopanz, der sich erschreckend intensiv nach dem orwellschen Alptraum anhört, gruselt die Euphorie über Coffee-Points, in denen sich die Mitarbeiter treffen können, bevor sie in Meetings wieder Performen müssen, damit ihr Talented-Index nicht zu sehr abfällt und sie eine nützliche Human Resource bleiben.

Gegenmodelle, ironischerweise aus dem Ursprungsland des Kapitalismus, behaupten sich hingegen schon seit Jahren, indem sie auf genau diesen inhumanen Schnickschnack verzichten. Diese Modelle beinhalten eine gleichrangige, demokratische Firmenkultur, in der Mitarbeiter auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, in dem kein klassischer Chef mit unerhörtem Mehrverdienst, sondern alle Firmenbeteiligte das Sagen haben und niemand mit einer Trillerpfeife durch enge Gänge gescheucht wird, um das Teamplay zu skillen. Kurz – in dem Respekt statt Obrigkeitshörigkeit das Klima bestimmt.

Gerade aus einer unerwarteten Perspektive wird dem DOK-Besucher ein gutes Beispiel für Widerstand vorgeführt. In Special Flight, dem Wettbewerbsfilm des Schweizer Regisseurs Fernand Melgar, scheint es beinahe so, als würde der schneereiche Winter die Mauern dieses auf der Leinwand so brutal wirkenden Genfer Gefängnisses durchdringen. Denn im Inneren des Traktes herrscht eisige Stimmung – und zwar rund um die Uhr. Es ist kein gewöhnlicher Knast, in den Melgar mit seiner hautnah am Geschehen klebenden Kameraführung in Relation zu den starken Charakteren eintaucht. In ihm sitzen Menschen, deren einziges Verbrechen es ist, durch eine veränderte Rechtsprechung von einem Tag auf den anderen Migrant zu sein. So schlagen sie ihre Zeit in einer Art Durchgangsstation herum, bis sie sich zermürbt und entkräftet ihrem Schicksal ergeben, mittels Flugzeug in irgendein Land, Hauptsache kein europäisches, transportiert zu werden. Ihre Familien bleiben zurück, ihre Arbeitsstelle ist verloren.

„Argentinean Lesson“ (Bild: DOK Leipzig)

Doch da ist ein wütender Mann, der dem Polizisten gegenüber sitzt, sich nicht gelassen die Planung seiner Abschiebung anhört. Der vehement insistiert – es geht schließlich um die Absicht, sein Leben zu zerstören. Und als wäre es eine biblische Wahrheit, droht er das Kippen der Kräfteverhältnisse in der Welt an. Vielleicht nicht morgen, ganz gewiss nicht – aber irgendwann. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, wird ihm dann doch unerwartet zum erlösenden Geschenk – die Freiheit, in der Schweiz bleiben zu dürfen.

Selten ist ein Dokumentarfilm derart aufwühlend – die erschütterten Gesichter der Zuschauer am Ende der Vorstellung sprechen Bände. Womöglich hat der Mann Recht , die Kräfteverhältnisse werden sich ändern. Denn jetzt sind wieder viele Menschen, Kinozuschauer, sensibler für bedeutende Themen geworden. Auch der Kameramann des letztjährigen Gewinnerfilm Vodka Factory, Wojciech Staroń, liefert in diesem Jahr eine Sozialstudie mit rotsandigen Steppeneindrücken aus dem feurigen Argentinien ab. Argentinean Lesson begleitet zwei Kinder, darunter Starońs Sohn, bei ihrer Odyssee durch das lateinamerikanische Land, in dem Armut und Elend in non-europäischen Dimensionen die Menschen tagtäglich fordern.

Das DOK-Auge blickt in dieser Woche auf die Menschen und ihre Lebensumstände. Dass dabei das Herz eine große Rolle spielt, zeigt ein junger polnischer Altenpfleger im Kurzfilm Descrescendo. Würdevoll begleitet er die grauen Eminenzen während ihrer letzten Station im Leben. Mit gefühlvoller Musikuntermalung und atmosphärisch dichten Gesprächen über die Liebe, die Familie und das Tanzen öffnen sich die Alten und lassen uns, das Publikum, an ihren Geschichten teilhaben.

Der Freigeist umgibt diese Dokwoche – sind doch so viele Menschen bereit, für unkonventionelle, um nicht zu sagen, unbequeme Filmkunst Geld zu zahlen und sogar Schlange zu stehen. Stolz, teilweise angeberisch, wandeln einige von ihnen mit den roten Stoffbeuteln, auf denen der zugegebenermaßen alberne Slogan „Aber warum nicht einfach die Wahrheit?“ in weißer Schwungschrift gedruckt ist, umher. Wenn sich weiterhin Filme wie Special Flight oder Work Hard, Play Hard in einem solchen Rahmen präsentieren, wird dieser Stolz auf das Festival mit Sicherheit weiterhin bestehen. Und egal, welcher der zwölf Beiträge die 10.000 Euro Preisgeld mitsamt der Goldenen Taube gewinnen wird – zur Förderung der Freiheit haben sie alle beigetragen.

54. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

17. bis 23. Oktober 2011

www.dok-leipzig.de

Special Flight

Schweiz 2011, 100 min., R: Fernand Melgar

Work Hard, Play Hard

Deutschland 2011, 90 min., R: Carmen Losmann

Descrescendo

Polen 2011, 23 min., R: Marta Minorowicz

Argentinean Lesson

Polen 2010, 56 min., R: Wojciech Staroń


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