Das 54. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm startet mit engagierten Beiträgen aus dem Deutschen und dem Nachwuchs-Wettbewerb
Wer sagt, dass man sich nicht viel vornehmen kann? Beim diesjährigen Dokfestival, das am Montag eröffnet wurde und dieses Jahr eine Rekordzahl von etwa 3.000 Einreichungen zu verzeichnen hat, geht es ums Eingemachte. „Aber warum nicht einfach die Wahrheit?“ ist die Leitfrage des Festivals, die Plakate und Festivaltaschen ziert und dabei so flapsig wie selbstverständlich daherkommt, dass man sich schon etwas angestichelt fühlt. Könnte es etwa ganz einfach sein, diesem Fassungslosen auf die Spur zu kommen?
Dokumentarfilme zeigen, „welche Schicksale sich hinter Schlagzeilen verbergen“, sagt Festivalleiter Claas Danielsen in seiner Eröffnungsrede am Montagabend. Der Zuschauer erhalte damit ein „tieferes, ein emotionales Verständnis der Welt“. In einer gleichsam emotionalen Rede plädierte er dafür, Ängste zu überwinden und Mauern einzureißen. – Eine Spurensuche beginnt.
Konstruktion einer Plage
A pestering journey von K.R. Manoj, der im Nachwuchs-Wettbewerb Generation DOK um die Talent-Taube ringt und Teil des Länderschwerpunkts Indien ist, zeigt solche Schicksale hinter den Schlagzeilen. Am Baumwollgürtel des Punjab im Norden des Landes, waren Landarbeiter etwa durch das Sprühen aus der Luft und ohne hinreichende Aufklärung giftigen Pestiziden wie dem hochgiftige Endosulfan ausgesetzt. Die Bevölkerung leidet seither unter Missbildungen, Krebs oder psychischen Schäden. Täglich fahren etliche Betroffenen vom Norden in den Süden mit dem Zug, im Volksmund bereits „Krebszug“ genannt, um dort bessere und erschwinglichere Versorgung zu erhalten.
Der Film gibt nicht nur den Erkrankten eine Stimme, sondern diskutiert auch das Verhältnis zwischen Natur und Mensch. Nahaufnahmen von Käfern oder Schaben zeigen den angeblichen „Feind“ und werfen die Frage auf, woher dessen Bedrohlichkeit rührt – der Schädling als eine durch Angst hervorgerufene Konstruktion. Darüber hinaus geht es aber auch um eine juristische Wahrheit. Der Film von K.R. Manoj wurde dem Obersten Gericht in Indien vorgelegt, um für ein endgültig flächendeckendes Verbot der Chemikalien als Beweis zu dienen.
Auch im Deutschen Wettbewerb Dokumentarfilm sind Beiträge zu sehen, die an einem Kern rühren, scheinbare Wahrheiten hinterfragen und Ängste aufdecken – oder auch nicht. Drei Weltpremieren.
Ein nachdenkliches Heimatlied
In monumentalen Bildern betrachtet die Dokumentation Peak von Hannes Lang die Alpen als Lebens- und Arbeitsraum und entblößt die romantische Vorstellung von dem Gebirge als unbeflecktes Sinnbild für Idylle und Heimat. Die Wahrheit sieht seiner Meinung nach anders aus. Der aus Südtirol stammende Regisseur widmet sich im Film einerseits den wenigen verbleibenden Kleinbauern, porträtiert andererseits die Alpen als Skigebiet und florierendes Ziel eines nicht abnehmenden Massentourismus – trotz Gletscherschmelze.
Berauschende Landschaftsaufnahmen im Breitbild werden dabei unmittelbar gefolgt von Beschneiungsanlagen, die zu retten versuchen, was geht. Die Technisierung als Teufelskreis. Kühl und distanziert nähert sich Lang Objekten und Menschen. Wenn die Kamera Liftarbeiter, oder Bauern einfängt und sie erzählen lässt, ist diese meist weit entfernt oder im Rücken der Menschen platziert, so als traue sie diesen nicht recht über den Weg. Etwas mehr Herzenswärme kommt dann aber doch mit den alternden Bauern auf. Die stechend scharfen Bilder lassen Liftstationen wie futuristische Gebilde in der Landschaft erscheinen. Die Beschneiungsanlagen nehmen in ihrem technischen Aufwand und fragwürdigen Ertrag absurde Dimensionen an. Und da ist sie wieder, die Angst: „Technische Mittel sind Produkte der Angst, der Überlebensangst“, kommentiert der Regisseur im Anschluss an den Film.
Ein wenig zu distanziert geht Lang an das Thema heran. Wenn Touristen in der Totalen gefilmt in die Lifte einsteigen oder wie zum Gruppenfoto aufgestellt, lange und ernst in die Kamera schauen, entsteht ein Missverhältnis. Als Teil der Problematik des gefährdeten oder gefährdenden Alpentourismus hätten sie eine Stimme verdient. So jedoch werden sie exponiert und gleichzeitig entmachtet. Wenn schon so oft in den Blickpunkt gerückt, hätte die anonyme Masse nicht namenlos bleiben müssen. Die eindrücklichen Bilder und Geräusche von Natur und Technik hallen aber nach. Peak begrüßt den Zuschauer mit einem Heimatlied und verabschiedet ihn mit einem solchen. Ein Heimatlied, das nachdenklich stimmt.
Fanfaren, Lametta und Pleitegeier
Im Ohr hallt einem auch die immer etwas heisere, weil sehr beanspruchte Stimme von Mehmet E. Göker nach. Diesem rückt der Film Versicherungsvertreter von Klaus Stern auf die Pelle. Er war der aufbrausende Boss des Unternehmens MEG AG, welches Versicherungsmakler beschäftigt, die Anfragen potenzieller Kunden aus dem Internet an private Krankenversicherungen vermitteln. Die Krankenkassen zahlen fette Provisionen, die Versicherungsmakler erhalten von Göker Zuckerbrot (Incentive-Reisen Deluxe) bei Erfolg, Peitsche (cholerischer Rauswurf ohne Kündigungsfrist) bei Misserfolg. Alles ist auf Umsatz getrimmt. Bis die Blase platzt und MEG 2009 pleite geht.
Der mehrfach ausgezeichnete Filmemacher Klaus Stern ist einem Größenwahnsinnigen auf der Spur, der es vom Migranten einer Arbeiterfamilie zum Ferrari und mittäglichen Sushi auf der Dachterrasse „geschafft“ hat. Dabei hatte Stern einen guten Riecher. Er begleitete den Unternehmer schon vor dem Insolvenzverfahren, lässt aber auch ehemalige Mitarbeiter zu Wort kommen. Man möchte nicht glauben dass es wahr ist, was man hier sieht. Bei morgendlichen Ansprachen trimmt er die Angestellten wie in einer Sekte, fragt Spitzenverkäufern bei der Jahresfeier auf Knien und mit einem Ring in der Hand, ob sie dem Unternehmen ein Leben lang Treue schwören. Die komplette Übertreibung, Blendung, Show.
Göker ist für den Film ein dankbares Objekt, das gerne redet und sich in den Vordergrund stellt. Private Krankenkassen, kein unwesentliches Rädchen in dem System, redeten jedoch weniger gern und waren zu keiner Stellungnahme bereit. Die Bilder sind eher verwackelt und schnell eingefangen, Ästhetik steht hier nicht im Vordergrund. Das passt jedoch ganz gut zur hektischen Person des ständig unter Strom stehenden und scheinbar angstfreien Protagonisten. Stern selbst sagt in Anschluss an „Versicherungsvertreter“ treffend, der Film sage viel über unsere Gesellschaft aus. Eine traurige Wahrheit.
„Es ist alles nur mehr ein Museum“
Und letztlich jemand, der der Wahrheit mal unerschrocken und selbstironisch ins Gesicht schaut, sie mal traurig hinnimmt: Der Österreicher Hermes Phettberg, schwuler Provokateur, unter anderem bekannt für sadomasochistische Kunstaktionen der 80er Jahre, wird in Der Pabst ist kein Jeansboy vom Regisseur Sobo Swobodnik als Alternder, von Schlaganfällen Gezeichneter durch seinen Alltag begleitet. Phettberg schleppt sich in gebückter Haltung die Treppen hinauf, schlürft die Suppe, trifft Freunde und tritt mit Swobodnik in den Dialog, die Sätze immer wiederholend. Schauspieler und Autor Josef Hader liest aus dem Off aus den immer noch veröffentlichten Gestionen, den täglichen Niederschriften Phettbergs. Träume vermischen sich da mit politischen Kommentaren zum Arabischen Frühling und intimen Resümees. Er konstatiert: „Kein Sex aber Fressalien. Ich konnte kein Leben lang einen Jeansboy begeistern“. Assoziativ dringt der Film in die Erinnerungen und Gedanken Phettbergs ein. Die Bilder in Schwarz und Weiß werden immer wieder unscharf, als befänden sie sich tastend auf der Suche nach dem alternden Mann, dessen Selbst immer weniger greifbar wird und dessen Leben so reich war. Einmal zeigt Phettberg dem Regisseur Sexfotos und sagt lakonisch: „Es ist alles vorbei“.
Ein liebevoller, poetischer und sensibler Film, der sich der Figur nicht aufdrängt weil der selbsternannte Narzisst sich der Öffentlichkeit noch immer gerne stellt. Phettberg selbst war nach der Vorführung anwesend. Er warf seine Gestionen ins Publikum, forderte zum Lesen auf: „Kommt und schaut und sterbt“, sagt er und skizzierte damit gleich den Lauf des Lebens. Wer so von Krankheiten mitgenommen ist, bringt die Dinge besser auf den Punkt.
Bis zum Sonntag gibt es noch Gelegenheit, sich auf dem Dokfestival auf eigene Spurensuche zu begeben.
54. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm
17. bis 23. Oktober 2011
A pestering journey
Indien 2010, 66 min., R: K.R. Manoj
Der Pabst ist kein Jeansboy
Deutschland 2011 – 74 min., R: Sobo Swobodnik
Versicherungsvertreter
Deutschland 2011 – 80 min., Regie: Klaus Stern
Peak
Deutschland/Italien 89 min., R: Hannes Lang
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