Who is afraid of 20th century music?

Ulf Schirmer erteilt der Avantgarde ein Absage: das 4. Konzert „Paradisi gloria 2011“ des Münchner Rundfunkorchesters

Dirigent Ulf Schirmer bei Proben (Fotos: Marek Vogel / PR)

Wolfgang-Andreas Schultz und Ulf Schirmer sind sich einig. Moderne Komponisten im Sinne der Avantgarde sind von einer Furcht vor Gefühlen geleitet, deshalb würden sie sich ins Technische flüchten. In der Einführung zum 4. Konzert Paradisi gloria 2011, moderiert von Fridemann Leipold läuft es einem manchmal kalt den Rücken runter. Die Avantgarde wird süffisant als Irrweg dargestellt, lange Zeit „war ein Dur-Dreiklang geradezu verboten“, berichtet Ulf Schirmer. Das in der Mehrzahl sehr betagte Publikum in der wunderbar modernen Herz-Jesu-Kirche in München-Neuhausen lauscht ehrfurchtsvoll.

Ich kann mich noch sehr gut an die dramaturgisch hervorragenden Silvesterkonzerte von Ingo Metzmacher in Hamburg erinnern: Who is afraid of 20th century music? war damals der polemische Titel. Wer vor der Neuen Musik Angst hat, ist am typischen Publikum in historischen und zeitgenössischen Konzerten sehr gut ablesbar. Doch woher diese Angst rührt, war mir bisher ein Rätsel.

Im heutigen Konzert entwickelt sich da so eine Ahnung. Ulf Schirmer, künstlerischer Leiter des Münchner Rundfunkorchesters, Generalmusikdirektor der Stadt Leipzig, Intendant der Oper Leipzig und Professor der Musikhochschule Hamburg doziert in der Einführung des heutigen Konzertes über das avantgardistische Verdikt des Dur-Dreiklangs und bescheinigt demgegenüber Alan Hovhaness „Symhony Sacra“, dem letzten Stück des heutigen Abends tonalen Wohlklang. Man wird das Gefühl nicht los, dass das reichlich Wasser auf die Mühlen der Avantgarde-Ablehner ist. Mit Wolfgang-Andreas Schultz hat er in dieser Beziehung einen kongenialen Partner. „Evolutionäre Ästhetik“ bezeichnet der seine Musiksprache, die verschiedenen Stile und Zeiten vereinen soll und gleichzeitig Neues schaffen will. Das ist die Geschichte von der eierlegenden Wollmilchsau, tonaler (historischer) Wohlklang mit dem Anstrich des Zeitgenössischen. Seinem Stück „Transfiguration“ merkt man, nach dem von Ulf Schirmer und den Mitglieder des Münchner Rundfunkorchesters wunderbar interpretierten „Cantus in Memory of Benjamin Britten“ von Arvo Pärt, die Unmöglichkeit Altes zu vereinen und gleichzeitig Neues zu erschaffen, deutlich an. Das ist gutes Handwerk, ja, aber wo sind die Ideen? Romantisch flimmern die Streicher, der Kontrast zum Blech wird wohldosiert untergehoben. Seine Beschreibung des Bildes „Transfiguration“ des Renaissance-Malers Raffael ist Programmmusik im historischen Sinn, thematische Setzungen sollen das Bild musikalisch interpretieren, Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ lässt grüßen. Nein, so geht zeitgenössische Musik nicht, hier fehlt das künstlerische Moment, die Authentizität.

Aus der Programmatik tonaler Wohlklang fällt Oriol Cruixents „Pregáries“ heraus. Sehr expressiv fällt der Beginn aus, tiefes Grummeln bildet einen Teppich, auf den sich im Weiteren eine polyphone Struktur legt. Hier schillert manche Idee, welche das Publikum augenblicklich in eine sichtbare Spannung versetzt. Eine Spannung, die Cruixent meisterhaft zu modellieren weiß, bevor das Stück in einen großartig entrücktem Pizzicato endet.

Toru Tukemitsus „I hear the water dreaming“ für Flöte und Orchester generiert seine Authentizität aus einer tiefen Vorstellung von Klang und Natur. Takemitsu arbeitet seismographisch, übersetzt die Natur in Töne. Hier liegt auch seine Entdeckung der Stille als Teil der musikalischen Gestaltung begründet: Der natürliche Kontrast zwischen Stille und Klang schafft eine unprätentiöse Spannung. Sehr gut spielen erneut die Musiker des Münchner Rundfunkorchesters. Ihre Harfen sind so klar wie Glockenspiele, weich und fließend integriert sich die Solo-Flöte.

Es wäre nicht fair, dieses Konzert in seiner Zielrichtung auf das 20. und 21. Jahrhundert nicht zu würdigen, zumal die Interpretation Ulf Schirmers und die Leistungen der Musiker nichts zu wünschen übrig lassen. Doch warum müssen diese unterschwellige Stigmatisierungen der Avantgarde erfolgen, warum ein durchweg wohlklingendes Programm ohne Mut zum Kontrast, zum Risiko? Ohne Mut zum Experiment könnten wir heute nicht in dieser wunderbaren Herz-Jesu-Kirche sitzen. Wer hat zu Beginn wissen könne, dass das Konzept, eine katholische Kirche gänzlich mit Glaswänden zu bauen, aufgeht. Die Option des Scheiterns ist ein immanenter Bestandteil von Kunst, wer dieses nicht akzeptiert will, schafft sie ab. Ebenso ungeeignet sind rückblickende Resümees, nachdem Motto „das haben wir ja immer schon gesagt“. Wir haben es zu akzeptieren, dass ein Künstler irren kann und darf. Wollen wir Adolf Loos, den berühmten österreichischen Architekten an seiner überzogenen und dogmatischen Schrift Ornament und Verbrechen oder an den von ihm geschaffenen Ikonen der Baugeschichte messen? Ich plädiere für Letzteres!

Paradisi gloria 2011, 4. Konzert

Sopran: Ines Reinhardt
Bariton: Andreas Burkhart
Flöte: Christiane Dohn
Chor des Bayerischen Rundfunks

Münchner Rundfunkorchester

Dirigent: Ulf Schirmer

28. Oktober 2011, Herz-Jesu-Kirche, München–Neuhausen


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