Transfiguration of commonplace

Was Leipzig von der Musikstadt Wien lernen kann

„Baron Münchhausen“ (Pressefotos: Wiener Taschenoper)

Wien Modern präsentiert sich wieder vier Wochen lang in der (Musik-)Stadt Wien. Da schaut man aus der (Musik-)Stadt Leipzig ziemlich neidvoll an die Donau. Ausnahmslos alle Musikinstitutionen Wiens veranstalten jedes Jahr gemeinsam eines der wichtigsten Festivals zum Thema Neue Musik. Auf Leipzig übertragen würde das bedeuten, dass die Oper, das Gewandhaus, der MDR-Klangkörper und viele andere sich gemeinsam vier Wochen lang nichts anderem als Neuer Musik widmen würden. Eine sehr charmante Vorstellung!

Neue Musik vier Wochen lang in eine Stadt tragen – wie geht das, wie macht man das in Wien? Einer der wichtigsten Punkte ist sicher, dass man sich jedes Jahr genau diese Frage selbst ernsthaft stellt. Sich jedes Jahr neu zu hinterfragen bedeutet zwangsläufig, dass man sich ständig verändert. Wien Modern hat sich seit der Gründung durch Claudio Abbado im Jahr 1988 ständig entwickelt. Mittlerweile ist man bei 13 Veranstaltungsorten angekommen und hier liegt ein weiterer essentieller Punkt, wenn nicht sogar das Erfolgsrezept von Wien Modern: Musik aus den klassischen Spielstätten heraustragen. So findet Wien Modern neben den klassischen Häusern wie Musikverein und Konzerthaus Wien in Spielstätten wie dem Rabenhoftheater, der Alten Schmiede oder dem Semperdepot statt. Musikalisch völlig untradierte Orte im speziellen Sinn, aber auch in Bezug auf die Lage, den Charakter des Ortes. Etwa das Rabenhoftheater, ein Theater im Rabenhof eines typischen Superwohnblocks, die man in der Zwischenkriegszeit in Wien errichtete, um der Wohnungsnot Herr zu werden, Musik also in Arbeitermilieu der 20er und 30er Jahre. Die Alte Schmiede ist da noch kurioser – ein Raum im Souterrain im 1. Wiener Bezirk, voll mit den Utensilien des heißen Handwerks, so als hätte der Schmiedemeister seine Werkstatt nur mal kurz für eine Brotzeit verlassen.

Elektronisch drapiertes Klavier im Semperdepot (Foto: S. Kühn)

Transfiguration of commonplace von Arthur Coleman Danto hat sich mit dem Thema der Aufladung von Alltäglichem beschäftigt. Ein Konzept was spätestens seit Marcel Duchamp anerkanntes künstlerisches Stilmittel ist. Im Rabenhoftheater wird der Auseinandersetzung mit dem Ort auch noch die Transfiguration des künstlerischen Programms entgegengesetzt. Wolfgang Mitterers Comic-Opera Münchhausen arbeitet audiovisuell als auch visuell mit Alltäglichem. Ein wilder Sampling – Mix aus Klassik und Trash kontrastiert mit Geräuschen wie Wind und Wolfsgeheul. Szenisch tragen die Oper Videoprojektionen des La Fura del Baus Künstlers Franc Aleu. Die Sänger und Darsteller bewegen sich zwischen zwei Projektionsflächen. Ein Versuch Neue Musik in laute Aktionen zu verpacken.

Ganz anders der Ansatz im Semperdepot:

Maschinenhalle #1eine szenische Installation des Künstlerkollektivs Gaiggs/Lang/Ritsch/Harnoncourt, die aus zwölf Automaten-Klavieren nebst zugehörigen Klangtischen besteht. Auf den Tischen bewegen sich die zwölf Tänzer, die Bewegungen werden durch Computer übersetzt und zu den Klavieren übertragen. Ein Projekt also, das an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine arbeitet, Fragen nach den Gegensätzen stellt, grundsätzliche Betrachtungen über das Verhältnis von Freiheit und Ordnung. Maschinenhalle #1 stellt sich in die Tradition von Fritz Langs Metropolis oder auch der deutschen Rockband Kraftwerk. Die Dramaturgie des Publikums arbeitet mit dem größten Freiheitsgrad – in einer großen Halle des Semperdepots kann man sich zwischen den zwölf Installationen völlig frei bewegen, Stühle sind nicht vorgesehen. Perkussive Klangstrukturen reißen die Aufmerksamkeit des Publikums von Installation zu Installation, verstärkt durch eine ausgeklügelte Lichtregie, welche Spotlight artig mit dem Raum umgeht. Die Tänzer selbst scheinen völlig unfrei: Gebannt hat jeder der Zwölf eine automatische Regieanweisung im Blick. Eine Art elektronische Sanduhr koordiniert die Bewegungen der Tänzer selbst und der zwölf Stationen untereinander. Mensch und Maschine – wer beeinflusst hier wen, ist die Choreografie vorgegeben oder richtet sie sich simultan nach den Aktionen im Raum? Eine gigantische Versuchsanordnung, die den commonplace Semperdepot einbezieht – choreografisch und szenisch. Ein wichtiger Beitrag im diesjährigen Festival.

Links und Mitte: Semperdepot. Rechts: Schömer Haus (Fotos: S. Kühn)

Eher klassisch dann das Programm im Schömer-Haus Klosterneuenburg, der ellipsoide Innenhof des Headquarter des österreichischen Obis – der Baumax Gruppe wird mit Kompositionen unter anderem von Gerd Kühr und Friedrich Cerha in Klang gesetzt. Gerd Kühr ist in diesem Jahr für die Auftragskomposition der Sammlung Essl verantwortlich, die traditionell im Schömer-Haus uraufgeführt wird. Gerd Kühr dirigiert sein Stück selbst, die fünf Sätze seines Musica Pura werden mit historischer Musik englischer Gotik und Renaissance kombiniert. Diese Einschübe tragen die äußert sorgfältig und zart konstruierten Klangflächen. Ein grummelndes Akkordeon leitet das Stück ein, im weiteren Verlauf kommen atmosphärische Stimmungen auf, die an ZEN – Buddhismus denken lassen, schließlich im letzten Stück wird die Partitur aufgeladen, das Akkordeon baut Druck auf, die Becken steuern dichte Klangflächen bei. Doch ganz im Sinne des Titels Musica Pura bricht der Plot schnell ab. Sehr schön wie sich im riesigen Raum das kurze Aufbäumen ausschwingen kann. Ansonsten werden die Möglichkeiten des Innenhofes mit seinen vier Galerien wenig in die Programmierung einbezogen. Cerhas Quellen am Ende des Konzertes ist dramaturgisch perfekt austariert. Die Gitarre führt den Plot durch die ruhigeren Stellen des 15-minütigen Stückes. Quellen war 1993 das erste Stück der Auftragskomposition der Sammlung Essl. Ob Gerd Kühr die Stimmung, die Farbe des Werkes im Blick hatte? Beide Stücke klingen sehr gut zusammen, beide sind für das Schömer-Haus komponiert.

Gibt es Zusammenhänge zwischen Raum und der daraus generierten Musik? Was ist der ideale Aufführungsort für Musik von heute lebenden Komponisten? Das sind die Fragen die Wien Modern zusammenhalten, die die Konzerte auf spezielle Art anschaulich und erinnerbar machen und deshalb so erfolgreich sind. Die Auslastung von Wien Modern liegt im Bereich klassischer (historischer) Musikfestivals. Transfiguration of commonplace? Programm und Inhalt sind auf künstlerisch höchstem Niveau, die Verortung in der Struktur der Stadt Wien und die Einbeziehung untradierter Orte schafft scheinbar den Erfolg, wovon viele Veranstaltungen von Neuer Musik nur träumen können (bisher?).

Wolfgang Mitterer: Baron Münchhausen / Comic-Opera (UA)

Interpreten: Andreas Jankowitsch, Martin Mairinger, Sarah Demichiel, Maria Weiss, Gernot Heinrich Franc Regie: Aleu Konzept
Musikalische Leitung: Wolfgang Mitterer

17. November 2011, Rabenhof Theater

Bernhard Lang: Maschinenhalle #1

Interpreten: Quim Bigas Bassart, Sara Canini, Ella Clarke, Alexander Deutinger, Robert Jackson, Milla Koistinen, Anna Majder, Asher O’Gorman, Eva-Maria Schaller, Magi Serra Foraste, Veronika Zott

18. November 2011, Semperdepot


die reihe

Karlheinz Essl: O rosa bella
Gerd Kühr: Música pura UA

Peter Maxwell Davies: All sons of Adam / Motette

Guillaume de Machaut / Harrison Birtwistle: Hoquetus David

Friedrich Cerha: Quellen

Interpreten: die reihe Ensemble
Dirigent: Gerd Kühr

19. November 2011, Schömer-Haus Klosterneuburg


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