Zwischen Kot und Blut werden wir geboren

In Sebastian Hartmanns Inszenierung „Nackter Wahnsinn – Was ihr wollt“ wird der slapstickhafte Maskenball zum Bacchanal

Edgar Eckert, Andrej Kaminsky, Jugendchor (Mitglieder der GewandhausChöre) (Fotos: David Baltzer/bildbuehne.de)

Der Wahnsinn, von dem im Titel des Schauspiels die Rede ist, nimmt von Beginn an seinen Lauf. Nachdem Sebastian Hartmann durch das Foyer geeilt ist und vielen Anwesenden per Händedruck viel Spaß gewünscht hat, schließen sich die Türen im gut gefüllten Centraltheater. Das Licht erlischt bei zunehmender Musik, bis totale Finsternis eingetreten ist – nicht einmal die Notbeleuchtung über den Türen ist noch zu erblicken. Orientierungslosigkeit bis im Zuschauerraum eine Lampe an einem Pult angeknipst wird. An diesem sitzt der Regisseur (Manuel Hader) des Stückes, das kurz vor der Premiere steht. Der Zuschauer blickt während des gesamten Schauspiels hinter die Kulisse, bevor die Uraufführung des Stücks, deren Proben der Zuschauer beiwohnt, beginnen kann. Vor den Augen des Publikums spielt sich der lange Prozess der Inszenierungsarbeit ab. Es entwickelt sich somit ein Spiel im Spiel, das die Verschiedenheit der Rollenanforderungen an den Schauspieler und darüber hinaus an das Individuum verhandelt. Das birgt viele komische Momente. Aber mit zunehmender Dauer der Handlung vergeht einem das Lachen, wird zum Entsetzen, zum Wahnsinn.

Wer an diesem Abend Shakespeare pur erwartet hat, der wird enttäuscht. Vielmehr nimmt Sebastian Hartmann den Kern von Was ihr wollt und konfrontiert die Bühne mit ihren Schauspielern und die Zuschauer mit der Thematik der Rollen, die jeder zu spielen hat, den Masken, die jeder trägt. Diese Konfrontation endet in schonungsloser Demaskierung, der nicht alle Zuschauer gewachsen waren.

Nach einem fulminanten Auftakt – die Bühne ist mit überlebensgroßen ausgestopften Tieren bevölkert, die Schauspieler singen und werfen riesige Luftballons in das Publikum, ein beeindruckender Konfetti-Regen in Kombination mit Feuerwerksfontänen geht nieder – bricht der Regisseur die Szene ab. Was nun folgt, ist die heitere Darstellung dessen, was normalerweise hinter der Bühne zu sehen ist. Der Regisseur – brutal und machohaft, aber auch verzweifelt und zynisch – beschimpft seine Schauspieler, die er für unfähig hält. Denken sei keine Strafe, wird dem Narren (Edgar Eckert) entgegen geschleudert. Des Weiteren liebe der Regisseur die Verlogenheit, die einer Figur eigen sei. Alle irren durcheinander. Jeder sucht seinen Platz. Sarah Franke alias Viola alias Cesario alias Olivia (man sieht hier schon das schizoid anmutende der Rollenzuschreibungen) spielt sich selbst als eine andere. So ist es letztlich mit allen Figuren, die auf und neben der Bühne agieren. Alle Schauspieler des Spiels im Spiel sind in erster Linie real existierende Personen, die sich auf der Bühne selbst spielen. Sie verkörpern sich selbst als Schauspieler. In dritter Instanz spielen sie dazu noch die Rolle, die ihnen vom Regisseur im Spiel zugedacht wurde. Der beständige Wechsel, das Hin und Her zwischen den verschieden Masken zeugt vom nackten Wahnsinn der Gesellschaft, die sich auf der Bühne produziert. Diese dreifache Brechung der Rolle verursacht einen Rahmen von bezugsloser Beliebigkeit, der mit Komik nichts mehr zu tun hat und schwindelerregend wirkt. Die leichte und durchaus zum Lachen animierende Oberfläche wird in der Tiefe zu einem grausamen Machtkampf.

Das gesamte Personal auf der Bühne ist morbid überreizt. Die eben schon erwähnte Sarah Franke spielt überzeugend eine hysterische und hyperventilierende junge Frau, die aus dem Stück gestrichen werden will, weil sie Angst hat, an den Anforderungen ihre Rolle zu scheitern. Ebenso Manolo Bertling, der sich selbst als einen doch sehr begrenzten Schauspieler darstellt, der ideenflüchtig den verzweifelten Regisseur mit neuen Vorschlägen zu seiner Figur konfrontiert.

Ein weiterer Charakter im Ensemble ist die „grande dame“ Dotty (Susanne Böwe), die vom Regisseur bevorzugt behandelt wird. Die anämische Blässe der Figur und ihre asthmatischen Anfälle reihen sich in das „Irrenhaus“ ein, das einem dargeboten wird.

Der Inspizient (Matthias Hummitzsch) ist durch sein beständiges Zitieren konfuzianischer Weisheiten und seine, an den betrunkenen Freddie Frinton erinnernde Ungeschicklichkeit, eine sehr liebenswürdige Figur, die fabelhaft gespielt ist.

Als Punkt auf dem I des Irrsinns platzt in die nun beginnende Krisensitzung, in der selbstironisch die gängigen Vorwürfe Leipziger Mittelmäßigkeit gebrochen werden, Heike Stumpf (Birgit Unterweger) um vorzusprechen. Das übermotivierte, stelzende Agieren wirkt mitleiderregend, überzeugt aber.

Musikalisch wird das Stück von Steve Binetti an der Gitarre und dem Gewandhauschor begleitet. Allerdings muss kritisch angemerkt werden, dass die akustische Verständlichkeit wenn die Schauspieler selbst singen, zu wünschen übrig lässt. Der Chor ist zauberhaft himmlisch.

Die Projektion der Textübersetzungen an die Bühnenwand, ist gut gemeint, verhindert aber den Blick auf das Spiel der Schauspieler. Umgekehrt erschwert es den Nicht-Primärtext-Kundigen das Verständnis, wohl wissend, dass die Sprachverwirrung Methode hat.

Immer wieder befassen sich die Figuren mit der Frage, wer sie eigentlich sind. Wo beginnt unser Bewusstsein, sind wir überhaupt die, die wir glauben zu sein? Diese undurchsichtige Verbundenheit der Rollen untereinander kommt zu einem Höhepunkt, wenn Sarah Franke, Manolo Bertling, Manuel Hader und Birgit Unterweger in einem Durcheinander aus verschleiernd wirkender Schleppe und Haut Shakespeare und Goethe mischen, sich in ihren Rollen verlieren und orgiastisch verschmelzen. Auf dem gedielten Bühnenboden räkeln sich vor einem Spiegel, den der Narr der Gesellschaft vorhält, Sarah Funke und Manolo Bertling. In diesem Spiegel sollen sie erkennen, so der etwas selbstverliebte Regisseur, dass sie nicht wissen wer sie sind. Heike Stumpf bricht erneut unaufgefordert in die Szene und beginnt Gretchen zu spielen. Die wahnsinnig gewordene Kindsmörderin verbindet sich immer mehr mit dem verschleierten Paar. Auch der Regisseur selbst kann diesem Sog der Enthemmung nicht standhalten. Er wird selbst Teil dessen, was er bis vor Kurzem noch anleitend überwacht hat.

Als Urszene der Rollenzuschreibung betritt Jesus Christus (Maximilian Brauer), der einen echten Esel im Schlepptau hat, die Bühne. Als tragische Insignie verfehlter Ich-Stärke, die sich den destruktiven Tendenzen der Rolle, die ihn geißelt nicht entziehen kann, kann die Christusfigur hier als das abendländische Urbild der Rollenproblematik gesehen werden. Er ist der, der nicht gesagt haben will, welche Rolle er zu spielen hat, sie aber unter dem Diktat der Übermacht spielen muss.

Vor dem Richterstuhl Gottes (Manuel Hader), dem Regiepult im Zuschauerraum, wünscht der Messias zu erfahren, wer er sei und was er zu tun habe. Die Antwort Gottes: Du wirst ein Märtyer sein und unsägliche Qualen erleiden. Was nun folgt ist hart an der Grenze des Zumutbaren, aber dennoch nachvollziehbar. Jesus Christus, der den Vertrag zwischen ihm und Gott – seinem Vater – brechen will und dann wieder nicht – weil er nicht kann –, verfällt immer mehr dem Wahnsinn seiner Rolle. Er ist die Marionette des Schöpfers, bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Teufel (Hagen Oechel) und Gott. Er beschmiert sich mit dem Kot des Esels, wodurch der Begriff des Gesalbten eine grundsätzlich neue Bedeutung bekommt. Er kasteit seine Genitalien, nach dem er völlig entblößt wurde und wird von seinem Vater beinahe zur Sodomie getrieben. Die Eselshow bleibt aber zum Glück aus. Diese Ehrlichkeit ist schwer zu ertragen. Viele Leute verlassen den Saal. Der Heiland, der als ein solcher auch immer der zu Opfernde ist, gleicht dem tragischen Esel Nietzsches, der eine Last tragen soll, die er gar nicht im Stande ist zu schultern. Hier siegt weder Gott noch Teufel, sondern der Wahnsinn. Die Determiniertheit der Figur ist erschreckend. Kein Wille triumphiert. Die schauspielerische Leistung von Maximilian Bauer ist erschreckend wahrhaftig und hinterlässt ein Gefühl betroffener Enge, die der riesige, aus Leuchtstoffröhren konstruierte Käfig, blendend unterstreicht.

Wenn nach Horkheimer und Adorno, die Geschichte der Zivilisation nichts anderes ist als die Geschichte der Introversion des Opfers, dann ist der nun folgende Auftritt von Natascha Kampusch (Cordelia Wege) geradezu folgerichtig. „Ich bin die Wahrheit!“, so das Entführungsopfer. Und damit hat sie recht. Die Verträge, die von den beiden Kindern mit ihren übergriffigen Peinigern geschlossen wurden, waren Verträge um des Vertragens willen. Es handelt sich dabei um ein einseitig verhängtes Urteil. Natascha Kampusch und Jesus Christus sind die Symbole einer, an der Introversion des Opfers wahnsinnig geworden Welt.

Die Komödie wird hier sukzessive zum Drama des Menschen, zum Schlachtfeld sich widersprechender Rollenzuweisungen demaskiert. Sebastian Hartmann konfrontiert in strapaziöser Art und Weise (dreieinhalb Stunden Spieldauer) sein Publikum, aber ebenso seine Schauspieler mit dem langen Weg zurück, zu dem Ort an dem das Kreuz zum Heil wurde. Schade ist, dass der letzte Monolog, der von Andrej Kaminsky gesprochen wird, im Nachhall des zwischen Kot und Blut vollzogenen Schreckens, untergeht. Die vom Chor gesungene Aufforderung „Schlafe in Frieden und Ruh`!“ wirkt absurd, hinterlässt Trauer, aber auch das Gefühl der Befreiung.

Fazit: Wenn jeder alles ist, ist niemand etwas. Dieses Schauspiel ist entsetzlich und beeindruckend, abscheulich und anziehend, stinkend und blumig, grausam und ehrlich!

Nackter Wahnsinn – Was ihr wollt

R: Sebastian Hartmann

Mit: Manolo Bertling, Susanne Böwe, Maximilian Brauer, Artemis Chalkidou, Edgar Eckert, Sarah Franke, Manuel Harder, Matthias Hummitzsch, Andrej Kaminsky, Thomas Lawinky, Hagen Oechel, Birgit Unterweger, Cordelia Wege

Premiere: 19. November 2011, Centraltheater


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