Diagnosen aus der Ambulanz

„Spielplan Deutschland“: Der Theaterdiscounter zeigt in Kooperation mit der Schaubühne Lindenfels und der Skala den Querschnitt der deutschen Theaterlandschaft

Fotos: Theaterdiscounter

„Ein Theater ist wie ein Krankenhaus mit einer riesigen Ambulanz.“ Der Zuschauer wird eingeliefert und nach mehr oder weniger abendfüllender Behandlung wieder entlassen. Bei den Behandlungsmethoden setzt man nicht selten auf Altbewehrtes. Am häufigsten angewendet wird in der Spielzeit 2011/2012 Goethes Faust, der in 12 der 113 deutschen Theaterhäuser in öffentlicher Trägerschaft Premiere haben wird.

Auch in der Schaubühne Lindenfels wurde der deutsche Klassiker schlechthin am 30.11. auf die Bühne gebracht – allerdings nur als eines von unzähligen Stücken. Birgit Unterweger bricht als schizophrenes, besessenes Gretchen vor der Bühne zusammen und wird um sich schlagend aus dem Saal geschleppt. Aber Moment mal: Die Schaubühne Lindenfels eine staatliche Bühne? Nein. Und warum Birgit Unterweger, ist sie doch Ensemblemitglied des Schaupiels Leipzig? Des Rätsels Lösung: An besagtem Abend gastiert Spielplan Deutschlanddie gesamtdeutsche Bühnenshow. Alle Stücke aller Theater an einem Abend auf einer Bühne, in der Schaubühne Lindenfels. In Leipzig kooperiert die Produktion des Theaterdiscounters Berlin erstmals mit einem freien und einem staatlichen Haus (1.12. Skala).

Ein sechsköpfiges Ensemble sowie die zwei Leipziger Gäste Birgit Unterweger und Edgar Eckert schicken Anne Verena Freybott, Georg Scharegg und Heike Pelchen in einen Theatermarathon. Wie in einem Vorschautrailer sind diverse Stücke deutscher Bühnen ausschnittartig zu sehen. Auf die Leinwand im Bühnenhintergrund werden Titel und die Namen der Häuser, an denen das jeweilige Stück Premiere haben wird, projiziert. Dabei trifft Kleists Michael Kohlhaas auf Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame und Fos Bezahlt wird nicht. Wie aus dem Nichts stehen sie plötzlich da, die beiden Scheinschwangeren; einen aufgepusteten Ballon als Kohlkopf unter ihrer Kleidung versteckt. Nicht fern ist der Polizist, der die mysteriöse Abfolge Schwangerschaft-Geburt-Schwangerschaft innerhalb von 24 Stunden in Frage stellt. Die wohl bekannteste Stelle in Fos Farce. Im nächsten Moment sind die Frauen und der Polizist verschwunden und ein Ausschnitt aus Mozarts Don Giovanni entsteht.

Wer sich ein bloßes, an Quantität orientiertes Aneinanderreihen ohne jeglichen Zusammenhang und Sinn vorstellt, der sei eines Besseren belehrt. Spielplan Deutschland ist Theater, Statistik, Theaterdiskurs und Theaterwissenschaft zugleich. Vortrag, Spiel, Lesung und episodische Musik fügen sich zu einem Konglomerat, das von seiner sprunghaften Variation lebt. Die Basis dafür bildet eine riesige Datenmenge: Welches Stück feiert in wie vielen Theatern Premiere? Wie ist die Frauenquote im Theatervorstand der deutschen Bühnen? In welchem Drama gibt es die meisten Toten? Spielplan Deutschland findet Antworten und schafft etwas Nicht-schubladisierbares. Müsste man dennoch einen Einordnungsversuch unternehmen, wäre die Bezeichnung „journalistisches Theater“ nicht ganz abwegig, aber auch nicht allumschließend.

Ein Pianist (Markus Reschtnefki) stimmt eine altbekannte Melodie an, ein Mann und eine Frau erheben sich von ihren Stühlen und noch bevor ein Ton gesungen wird, stellen sie eines klar: „Wir hassen es, das Forellenquintett zu spielen. Und trotzdem tun wir es immer und immer wieder“. Dann liefern sich Männlein und Weiblein einen Gesangswettstreit: „Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Pa Papageno!“ schallt es aus der einen Ecke, „Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Pa Papagena!“ aus der anderen. Die Zauberflöte. Ein überspielter Klassiker, der dennoch nicht von den Bühnen zu drängen ist. Und warum? Nicht zuletzt, weil Theater als Bildungseinrichtung angesehen wird, sich Lehr- und Spielplan überschneiden. Liegt darin überhaupt noch eine Perspektive? Wie sollte ein Stadttheater heute aussehen? Fragen, die das Stück aufwirft und über deren Antworten sich die Gemüter streiten. In jedem Falle aber sollte Theater ein Ort des Zweifels sein, ein Möglichkeitsraum, der die Wirklichkeit parodiert.

Diesen Anspruch setzt das Team geschickt in die Tat um. Zu Pension Schöller tanzt ein Schwarzbekleideter (Jaron Löwenberg) auf einem Tisch. Er hält ein Mikro in der Hand und gibt eine wunderbar überperformte Playback-Version von Robbie Williams Let me entertain you zum Besten. Dabei wird Robbie von seinen hyperventilierenden Fans niedergekreischt. Im nächsten Moment verwandelt er sich in einen der Schauspieler zurück und diskutiert am Tisch sitzend. Einen Kostümwechsel braucht es nicht, genauso wenig wie eine Stilbühne. Alltagskleidung und wie zu einer Podiumsdiskussion aufgestellte Tische und Stühle genügen für fast alle Variationen. Ein sanfter Wink an reizüberflutete Stadttheaterinszenierungen.

Die förmliche Tischaufstellung wird nun für den Dialog über aktuelle Theaterfragen genutzt. Ein fiktives Interview mit Armin Petras. Der Intendant des Berliner Maxim Gorki Theaters spricht in Bezug auf seinen beschlossenen Wechsel ans Staatstheater Stuttgart von einer „Verschwäbelung Berlins“. Alles wird schicker und heute kann man in Berlin nicht mehr nur Currywurst, sondern an jeder Ecke richtig schick essen. So wie sich Berlin verändert, hat sich auch Spielplan Deutschland seit seiner Erstausgabe gewandelt. Was 2007 als Lesung mit tagesaktuellen Happenings in Berlin begann, ist zu einer riesigen Saisonvorschau aller staatlichen Theater der Bundesrepublik geworden, die quer durch diese reist. In Berlin, Frankfurt, Schwerin, Rostock und Leipzig machte der Theaterdiscounter bereits Station. Die nächsten Stopps sind Hamburg und Tübingen, bis das Ensemble am 19./20. Dezember noch einmal in der Heimat auftrumpft. Jeder Abend wird sich von seinem Vorgänger unterscheiden aber eines beweisen sie gewiss alle: Auch heute, wo man denkt, bereits alles auf den deutschen Bühnen gesehen zu haben, kann man Neues schaffen und dabei intelligent, kreativ und komisch sein.

Spielplan Deutschland

Eine Produktion von Anne Verena Freybott, Heike Pelchen und Georg Scharegg im Theaterdiscounter Berlin

Mit: Birgit Unterweger, Edgar Eckert schicken Anne Verena Freybott, Georg Scharegg, Heike Pelchen

30. November 2011, Schaubühne Lindenfels


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