Tina Saum hinterfragt in „Unterbrechen. Medea – ein Schlagabtausch“ die Interpretations-möglichkeiten einer dramatischen Kultfigur
Der Boxkampf ist geprägt durch Regeln der „fairness“. Dieser Kampfsport benötigt zwei Personen der gleichen Gewichtsklasse, die sich um das Kämpfen mit der geschlossenen Faust bemühen und durch technisch-körperliche Fähigkeiten versuchen den Gegner zu besiegen. Unterbrechen. Medea – ein Schlagabtausch ist kein Boxkampf sondern eine Inszenierung von Tina Saum im Rahmen des Werkstattmacher e.V. Dennoch findet die Inszenierung in einem Boxring in den Räumen des Westwerks statt. Der Boxring weckt Erwartungen auf einen Showdown, auf einen Schlagabtausch der besonderen Art.
„Boxkampf der Diskurse?“
Medea ist eine vieldiskutierte Frau. Basierend auf einer griechisch mythologischen Geschichte wurde diese Figur modifiziert, mystifiziert, dekonstruiert und rekonstruiert, sei es durch Euripides, Heiner Müller oder Christa Wolf. Ist Medea die rachsüchtige Ehefrau, die ihre Kinder tötet? Ist sie im Stande, die neue Frau an der Seite ihres Mannes Jasons zu ermorden und einem ihr fremden Land zu entfliehen? Ist Medea eine Idee? Ein medialer Geist und die Repräsentationsfläche einer Frau, die in einer Gesellschaft durch ihren Stand und ihrer Haltungen keinen Platz findet? Ist sie die ewig Fremde? Ist sie kaltblütig, herzlos oder vielleicht einfach nur unmöglich verliebt? Tina Saum nähert sich mit Hilfe ihrer beiden Performerinnen diesen und anderen Fragen. In diesem performativen Boxkampf der Diskurse stehen die Kunstfigur Medea, „verkörpert“ von Diane Marstboom, und die Reporterin E.N., dargestellt durch Angelika Haussmann, im Zentrum des Geschehens.
„Geschichten erzählen?“
Die zwei Frauen betreten den Raum. Medea im Trenchcoat trippelt souverän tänzelnd durch den Raum, begutachtet den Ring und ihre Mitstreiterin. Die Reporterin klebt den Boxring ab, in dem sie Kreppband auf dem Boden verteilt, Stühle aufstellt und Grenzen zieht, die durch Medea immer wieder „entfernt“ werden. Ein „symbolischer“ Vorgang dieser Inszenierung. Die Reporterin stellt Fragen an Medea. Die alt gewordene Promi-Figur antwortet, stellt Gegenfragen über sich selbst, über ihre Kinder, über Jason, über ihre Vergangenheit. Ein großer Schlagabtausch und ein Intermezzo der Anschuldigung und Rechtfertigung lassen die Fassaden der Medea und der Reporterin bröckeln. Bis zum Schluss bleibt unklar, wer diese Frauen sind. Die einzige Erkenntnis ist die Suche nach der Wahrheit und die Wahrhaftigkeit der Geschichte dieser Medea-Figur und der verschiedenen Versionen. Die Runden des gegenseitigen Beschuldigens werden durch einen „Gong“ eingeläutet und zeigen den Gewinner der jeweiligen Gesprächsrunde an.
„ Gewinner-Verlierer?“
Die Souveränität der Aussagen beider werden dauerhaft in Frage gestellt. Im Kampf und Krampf um eine Geschichte scheint es nach mehreren Runden keine Gewinner, keine Verlierer zu geben Die bezeichnendste Szene des Abends markiert die Umkehrung. Medea beendet abrupt das Interview, will gehen. Die Reporterin spricht einen Medea Monolog und der Zuschauer steht verwirrt als Ringrichter inmitten dieser Auseinandersetzung. Die Figuren sind aufgehoben und die Grenzen verwischt. Zwischen diesen performativen „Interviews“ ertönen Fragen vom Band über Migration, Psychologie und zeitgenössiche Bezüge. Die Aufnahmen unterstützen den Austausch und hinterfragen die Position der Figur. Medea ist eine „Migratin“, eine „psychologisch“ diskutierte Frau. Die Reporterin tanzt auf einem Stuhl, geht durch den Raum und wirkt maschinenhaft fremd. Medea versucht sich zu positionieren.
Am Ende muss der Zuschauer selbst entscheiden, was nach knapp einer Stunde geschehen ist. Welcher Medea-Version man Glauben schenken mag. Die Darstellerinnen schaffen es, uns in die Verwirrungen zu spielen, die gelegentlichen Spannungshänger tun dem kein Abbruch. Die Facetten der Wahrheit sind für jeden anders Gesteckt. Tina Saum gelingt eine facettenreiche, nachdenkliche aber bei aller Schwere der Thematik eine interessante Inszenierung, die zum Nachdenken über diese Kunstfigur anregt. Nicht mehr und nicht weniger.
Unterbrechen. Medea – ein Schlagabtausch
R: Tina Saum
Mit: Angelika Haussmann, Diane Marstboom
Eine Produktion von Tina Saum in Zusammenarbeit mit dem Werkstattmacher e.V., dem LOFFT Leipzig und dem Westwerk.
Premiere: 5. Dezember 2011, Westwerk Leipzig
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