Was kann ein Theaterraum heute noch leisten?

Interview mit dem Regieduo Christopher Köhler und Lisa Günther zur Inszenierung von Ian Mc Ewans „Zementgarten“ in den Cammerspielen Leipzig

Das „Zementgarten“-Team: Leonie Geisinger, Lisa Günther, Christopher Köhler und Liese Endler (Fotos: Cammerspiele)

Am 16. Februar wird Ian Mc Ewans Der Zementgarten auf der Bühne der Cammerspiele Leipzig zu sehen sein. Almanach-Autorin Alexandra Hennig hat sich mit dem Regieteam Christopher Köhler und Lisa Günther zum Gespräch getroffen. Noch laufen die Proben, die die Bühnenfassung von Leonie Geisinger zum Leben erwecken. Dabei widmet sich das Team großen Themen: die Erschaffung von Figuren, gesellschaftliche Machtverhältnisse und das Erzählen von Geschichten.

Leipzig-Almanach: Warum bringt ihr 2012 Der Zementgarten ins Theater?

Chris: Ian Mc Ewan ist einer meiner Lieblingsautoren, da liegt es nicht fern sich näher mit einem Roman von ihm zu beschäftigen. Das Besondere am Zementgarten ist, dass diese Geschichte nach und nach ganz andere Formen annimmt. Wenn man den Roman zum ersten Mal liest, wirkt alles sehr simpel und offensichtlich – erst nach einem zweiten oder dritten Mal, wird klar, dass sich so tiefgründige Verstrickungen darunter verbergen.

Lisa: Genau. Eben deshalb wollen wir diesen Stoff auch auf die Bühne bringen. Nachdem ich den Zementgarten auf Chris Vorschlag hin gelesen hatte, war ich sofort dafür, ein Stück zu machen. Der Spagat zwischen dem Roman, einer eigenen Textfassung und der Inszenierung ist das, was mich an der Arbeit jetzt so fasziniert.

Leipzig-Almanach: Soweit euer Ansatz. Hat euch der Inhalt dieses Romans ebenso gepackt?

Lisa: Die Geschichte und ihre Charaktere wirken so unbegreiflich. Wir bekommen als Leser nur eine oberflächliche Vorstellung von dem, was sich tatsächlich in dieser Familie abspielt. Inzest ist wohl auch eines der letzten großen Tabu-Themen in unserer Gesellschaft. Gleichzeitig fühlen wir uns als Voyeure, Beobachter, die diesen Geflechten von Macht, Formen von Liebe und Gewalt beiwohnen.

Chris: Ich denke, dass sich diese Familie als Bild von der „Welt im Kleinen“ begreifen lässt. Es geht vor allen Dingen um Strukturen von Macht. Macht der Eltern zu ihren Kindern, der Geschwister untereinander. Macht der Sexualität, der Geschlechterrollen, Macht von gesellschaftlichen Konventionen. Mc Ewan stellt diese Strukturen aus, ohne sie zu bewerten.

Lisa: Wir alle bewegen uns innerhalb von Ordnungen, in denen perfides Handeln plötzlich seine Berechtigung findet. Diese Strukturen sind das, was uns in der Arbeit interessiert, was wir unterlaufen möchten. In unserem Stück spielt der Moment von Voyeurismus eine sehr entscheidende Rolle: Die Zuschauer werden so ins Geschehen mit reingezogen, Teil dieses Kosmos, denn sie sitzen nicht unweit vom Wohnzimmer – dort mag man fast vergessen, was eigentlich genau passiert.

Beide: Ob und wenn ja wir es immer noch als falsch erachten, was in dieser Familie vor sich geht.

Szenenbild

Leipzig-Almanach: Ihr habt schon die Schwierigkeit angesprochen diesen literarischen Stoff auf die Bühne zu bringen. Wie sieht da eure Arbeit mit den Schauspielern aus, die ihre Rollen mit Leben füllen müssen?

Chris: Obwohl die Figuren im Roman nur sehr schemenhaft erscheinen, gibt es doch Anhaltspunkte, nach denen wir vorgehen. Die Geschichte aus der Sicht von Jack, so wie der Roman geschrieben ist, in einen Blick von außen zu verwandeln, bei dem jede Figur zu Wort kommt, ist die besondere Schwierigkeit, der sich Leonie gestellt hat, als sie die Textfassung zum Stück geschrieben hat.

Lisa: Ja, wir haben zu dritt sehr lange diskutiert und uns darüber verständigt, wie die anderen Figuren ihre Sicht entwickeln könnten. Natürlich ist das nach wie vor unser spezifischer Blick, unsere Interpretation, die nicht den Anspruch erhebt „genauso müssen wir uns diese Familie vorstellen“, aber wir haben sehr genau mit dem Roman und dem, was als Anhaltspunkte zu finden ist, gearbeitet.

Chris: Selbst nach der Textfassung und der Zusammenarbeit zwischen uns Dreien, ist dieser Prozess nicht abgeschlossen, denn am Ende sind es die einzelnen Schauspieler, die unsere Vorschläge der Figuren verkörpern, annehmen müssen und noch mal ihren individuellen Blick mit rein bringen.

Lisa: Genau. Klar treten wir drei als Richtungsgeber auf und haben unsere Vorstellungen von dem, was auf der Bühne passieren soll, aber grade in dieser Arbeit müssen wir die Bilder immer wieder einer Überprüfung unterziehen und unsere Spieler immer wieder befragen: „Wie siehst du dich in der Rolle? Passt diese Reaktion in dem Moment für dich zusammen?“ Auch nach der Figurenskizze gibt es vieles, was noch nicht feststeht und verhandelt werden muss. Für uns ist auch immer die Schwierigkeit oder Gefahr präsent, zu sehr ins Klischee abzudriften, die Figuren zu „rund darzustellen“. Mich lässt da oft die Frage nicht los: Wie viel können wir da rein lesen, was geht zu weit, wann wird es doch wieder zu platt, zu einfach gedacht.

Chris: Letztendlich lassen sich die Figuren nie komplett greifen oder verstehen, auch wenn wir in der letzten Zeit sehr ehrgeizig daran gearbeitet haben. Es soll uns nicht darum gehen, ihnen einen Stempel aufzudrücken – da ist das Theater dann nicht so weit entfernt vom echten Leben, wo wir Menschen und ihre Motive auch immer nur bis zu einem bestimmten Punkt fassen können.

Leipzig-Almanach: Ihr beide arbeitet ja nun als Regie-Team und seid Partner, sowohl in ästhetischen Fragen als auch inhaltlich. Könnt ihr sagen, was das für Besonderheiten und vielleicht auch Schwierigkeiten mit sich bringt?

Lisa: [beide tauschen einen vielsagenden Blick aus] Wir sind oft sehr unterschiedlicher Meinung und darum ergänzen wir uns gut.

Chris: Ja, die Arbeit mit Lisa ist immer sehr harmonisch und gleichzeitig eine produktive Reibungsfläche. Ich glaube, in der Diskussion und Zusammenarbeit entsteht einfach mehr als würde ich das nur mit mir alleine ausmachen.

Lisa: Auch, dass wir dieses Mal Leonie als Dramaturgin dabei haben, bringt nochmal ganz neue Perspektiven mit rein.

Chris: Genau. Durch die theoretische Ebene, die wir immer wieder in Ansätzen mit einfließen lassen, entstehen noch mal Brüche, andere Ebenen. Außerdem ist ein Blick von außen immer produktiv und hilfreich. Ihr fallen nochmal Dinge auf, die Lisa und ich inzwischen schon übersehen.

Leipzig-Almanach: Zum Schluss vielleicht ein bisschen provokativ gefragt: Ihr habt vorhin von der Verstörung gesprochen, die bei den Zuschauern einsetzen würde, nachdem sie aus dem Stück entlassen werden. Könnte es nicht aber auch sein, dass diese Form von Einfühlung ausbleibt – immerhin ist ja allen klar, dass es „gespielt“ ist und sie in Wahrheit eben nicht verwandt sind. Wenn wir diesen Gedanken weiter gehen, kommen wir zur grundsätzlichen Frage, was ein Theaterraum (noch) leisten kann …

Lisa (schmunzelnd): Ja, … natürlich wollen und können wir kein Illusionstheater machen. Die Zuschauer werden in so fern mit „reingezogen“ werden, wie jeder von ihnen es zulassen möchte, aber ich denke, unsere Form der Darstellung gibt das auf jeden Fall her.

Chris: Nebenbei geht es auch nicht um eine Läuterung oder Belehrung. Es gibt immer Anziehungs- und Abstoßungsmechanismen, Brüche und eine Verschiebung der Ebenen. Aber ja, wenn du das meinst, es ist eine Konstruktion. Wir erzählen eine Geschichte.

Beide: Wann hat das eigentlich angefangen, dass die Leute behaupten, es dürften keine Geschichten mehr erzählt werden?

Chris: Es geht doch immer um was, oder zumindest für mich, wenn ich mich entscheide, ein Stück zu machen.

Beide: Die Frage ist vielleicht nicht, ob man eine Geschichte erzählt, vielleicht noch nicht mal so sehr, welche Geschichte erzählt wird, sondern wie.

Leipzig-Almanach: Danke euch beiden für das Gespräch!

Der Zementgarten

Premiere: 16. Februar 2012, 20 Uhr, Cammerspiele

Weitere Termine: 17./18.Februar sowie 28./29.Februar.


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