Laute Stille

Wilde & Vogel machen aus Safran Foers Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ Figurentheater

Foto: Therese Stuber

Auf nur wenigen Quadratmetern erstreckt sich Manhattan vor den Zuschauern. Mit Kreide ist der Stadtplan auf den schwarzen Bühnenboden gezeichnet, deutlich sind die säuberlich angeordneten Straßen zu erkennen. Hinten ist noch der Central Park zu sehen, ein grünes Rechteck, perfekt in die Symmetrie der Straßen eingepasst. Und hier, in New York, soll auch die Geschichte eines außergewöhnlichen kleinen Jungen beginnen. Die Geschichte von Oskar Schell nämlich, der seinen Vater bei den Anschlägen vom 11. September verloren hat, und sich nun auf die Suche nach Antworten begibt. So manch einem mag die Handlung bekannt vorkommen, denn die Basis des Stückes Lauter! ist Jonathan Safran Foers Erfolgsroman Extrem laut und unglaublich nah, welcher aktuell auch als Verfilmung im Kino zu sehen ist. Mit ihrer Interpretation des Buches schlagen die polnische Theatergruppe Teatr Malabar Hotel und das Figurentheater Wilde & Vogel den Weg einer szenischen Collage ein und lassen den Stoff mithilfe von Figuren, Masken und Musik lebendig werden.

Noch bevor das Einlasslicht im alten Ballsaal des Lindenfels Westflügel ausgeht, beginnt einer der beiden Männer auf der Bühne, die Kreidezeichnung am Boden zu verändern. Linien werden hinzugefügt und die Umrisse eines Stuhls abgezeichnet. Die Stelle, an der das World Trade Center einst stand, verwischt er mit seiner Faust, so dass nur noch ein schwammiger Fleck zu sehen ist. Rings um den Bühnenrand sind Figuren und Gegenstände drapiert, warten auf ihren Einsatz. Der Mann, welcher eben noch mit Kreide auf dem Boden zeichnete, steht nun vor den Zuschauern und erzählt sehr liebevoll von den kindlichen Ideen des Oskar Schell: Was wäre beispielsweise, wenn eine Teekanne beim Einschenken Lieder pfeifen würde? Mit seinen Händen formt er dabei den Schnabel der Kanne, lässt sie reden und pfeifen. Und wenn jeder Mensch ein kleines Mikrofon verschlucken würde? Und der Herzschlag würde aus Lautsprechern in den Hosentaschen zu hören sein? Auf der ganzen Welt könnte man dann das melodiöse Pochen aller Herzen spüren, führt er weiter aus und erschafft so ein Bild von einem Jungen, der seine Welt mit anderen Augen sieht.

Die Inszenierung Lauter verbindet genau wie die Romanvorlage, verschiedene Handlungsstränge, geht dabei aber collagenartig vor. Ist in einem Moment noch von Oskar Schell die Rede, werden im nächsten dessen Großeltern vorgestellt. Sie sind Überlebende der Bombenangriffe auf Dresden im Zweiten Weltkrieg, und haben, wie der Zuschauer im Verlauf des Stückes erfahren soll, ihr Trauma nicht überwinden können. Mit jedem Schritt der Spieler auf der Bühne verwischt die Kreidezeichnung zusehends, parallel dazu verschwimmen auch Handlungsort und Zeiten der Erzählungen.

Foto: M. Vogel

Die Art und Weise, mit der eigenen Trauer fertig zu werden, ist ein Punkt, der die Handlungen des Stückes verbindet. Verarbeiten die Großeltern ihre Kriegserlebnisse mit Schweigen, flieht Oskar, der den Tod seines Vaters verarbeiten muss, in eine surreale Welt und ist ständig auf der Suche. Was das Ziel dieser Suche ist, ist ihm allerdings nicht klar. Er hat nur einen Schlüssel, den er in einem Briefumschlag gefunden hat. Darauf geschrieben steht nur ein Wort: Black. Der Umschlag kommt während einer Erzählung von der Decke geflogen, landet auf dem Bühnenboden. Mit einem geschickten und originellen Einsatz von Bildprojektionen, beginnt nun die Suche nach dem Schloss. Und diese soll nicht einfach werden, wie schon die Projektionen des Beamers auf zwei schmutzige Tücher an der hinteren Wand andeutet: In Endlosschleife laufen Zahlen und Fakten ab, die preisgeben, wie unwahrscheinlich es ist, das richtige Schloss für den geheimnisvollen Schlüssel zu finden. Einen Schlüssel hat der Junge, mehrere Dutzend Wohnungen gibt es in einem Wohnhaus, viele Tausend Wohnhäuser in New York. Von den Postfächern und Autoschlössern ganz abgesehen. Alles in allem finden sich so rund 228.000.000 Schlösser in der Stadt. Auch im weiteren Verlauf wird viel mit Bildprojektionen gespielt. So wird zum Beispiel mit Google Street View die Suche in New Yorks Straßen angedeutet. Auch das Anzünden eines Fotos von Dresden zur Zeit des Zweiten Weltkriegs wird per Webcam übertragen und auf die Wand projiziert.

Mit originellen Mitteln und lediglich einer Handvoll Masken und Puppen erzählt das Spieler-Duo auf der Bühne eine sprunghafte Geschichte. Die Figuren im Stück sind geplagt von der ständigen Unfähigkeit, sich ausdrücken zu können. So spricht Oskars Großvater beispielsweise seit den traumatisierenden Erlebnissen kein Wort mehr, leidet stumm in sich hinein. Ganz anders dagegen die Ausdrucksfähigkeit der Spieler. Mit geschickt ausgewählten Textstellen aus der Romanvorlage schaffen sie eine Geschichte, die mit wenigen Mitteln viel erzählt. Vom Suchen nämlich, und vom einsam sein. Aber eben auch vom kindlichen Blick auf die Welt, von den Dingen und ihren Seelen. So entsteht eine wunderbar melancholische Collage, die eigentlich gar nicht so laut ist, wie der Titel es verheißt.

Lauter!

R.: Michael Vogel

Mit: Marcin Bartnikowski, Marcin Bikowski

Premiere: 24.02.12, Lindenfels Westflügel


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