Dimitrij Kitajenko mit einem Gewandhausorchester in Topform

Tschaikowskys Violinkonzert und Skrjabins Sinfonie „Le divin poème“ im Großen Concert

Dmitrij Kitajenko (Foto: Gert Mothes; © Kitajenko)

Länderschwerpunkte scheinen in diesen Wochen en vogue bei der Programmgestaltung der Großen Concerte des Gewandhausorchesters zu sein, wie jüngst der Tschechische Schwerpunkt mit Tomás Netopil und der Dänische Akzent unter Osmo Vänskäs Leitung. Für die Konzerte am 9. und 10. Februar übernahm Dimitrij Kitajenko mit einem rein Russischen Programm die musikalische Leitung. Das berühmte Violinkonzert von Peter Tschaikowsky und die selten zu hörende, dröhnende dritte Sinfonie von Alexander Skrjabin standen auf dem Programm. Solist im Violinkonzert war einer der drei Konzertmeister des Gewandhausorchesters: Frank-Michael Erben.

Tschaikowskys beliebter Klassiker und der, von den Leipzigern zu recht höchst geschätzte Frank Michael Erben: In dieser Kombination konnte einem Erfolg nichts im Wege stehen. Das Gewandhausorchester begleitete seinen Primarius mehr als souverän durch die anspruchsvolle Partitur. Vor allem der Holzbläsersatz faszinierte mit seinen dunklen Farben, Kitajenko ließ frei ausspielen, atmen. Teilweise jedoch kam der Eindruck auf, dass Solist und Dirigent nicht an einem gemeinsamen Strang ziehen würden, nach Tempowechseln brauchte es ein paar Takte, ehe beide wieder zusammenfanden. Das war etwas bedauerlich, da Frank Michael Erben eine gelungene, höchst individuelle Interpretation der Partitur gelang. Der zarte Soloton passte wunderbar zu den schwelgerischen Kantilenen. Zudem nahm sich Erben, jene Freiheiten, die den Solisten eben zum Solisten machen. Zur Entstehungszeit der großen romantischen Solokonzerte war ein befreites Musizieren selbstverständlich. Das Publikum begegnete der Aufführung mit sehr herzlichem, aber kaum enthusiastischem Beifall. Es folgte die für Leipzig fast obligatorische Bach-Zugabe.

Im Jahre 1984 gab es eine späte Premiere im Gewandhaus. Unter der Leitung von Dimitrij Kitajenko (!) spielte das Gewandhausorchester erstmals die 3. Sinfonie von Alexander Skrjabin, die Uraufführung fand jedoch bereits 1905 in Paris unter der Leitung des damaligen Gewandhauskapellmeisters Arthur Nikisch statt. Heute ist Kitajenko also erneut mit diesem Werk zu Gast. Er gilt als Skrjabin-Experte. Vielen Hörern sind seine Aufnahmen der Sinfonien und symphonischen Dichtungen „Le poème de l’Extase“ und „Promethée“ mit dem Frankfurter Radio-Sinfonie-Orchester bis heute Referenz auf dem raren Plattenmarkt Skrjabin’scher Orchesterwerke. Seine Interpretationen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Klarheit aus, wofür er durchaus z.B. bei den Tempi zurückzugehen bereit ist. Das riesig besetzte Gewandhausorchester folgt ihm bereitwillig und zaubert einen süffisanten, wunderschönen Klang in dem heute sehr gut besuchten großen Saal. Durch einen großen Blechbläsersatz (8 Hörner, 5 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba) und schneidiges Schlagwerk erreicht das Werk extreme dynamische Spitzen, die jedoch nie hart oder grob klingen. Dennoch macht sich bei mir Enttäuschung ob dieser Aufführung breit. Sie ist technisch brillant, aber wo bleibt der Zündfunke? Der ersten Allegro-Teil kommt nicht vom Fleck, das Rausch- und Triebhafte in Skrjabins synästhetischer Klangwelt wird einer philharmonischen Kühle geopfert, die der Innenwelt der Sinfonie schlicht und einfach nicht gerecht wird. Bedenken wir, dass dieser „Dritten“ ein, von Skrjabin selbst verfasstes, programmatisches Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „Le divin Poème“ – „Das göttliche Gedicht“ – zu Grunde liegt. Alexander Skrjabin hatte „Prometheische Fantasien“, wie ein Band seiner Schweizer Tagebuchaufzeichnungen betitelt ist. Er wollte die Menschheit durch die Kunst verbessern. Gekoppelt ist dies mit einem ausgeprägten Mystizismus und der Affinität zu hinduistischen Gedanken. Immer wieder ließ er sich zu Äußerungen wie „Ich bin Gott“ hinreißen. Und er meinte dies ernst. Der schöpferische Mensch, also auch er als Komponist, trägt seiner Meinung nach von je her etwas Göttliches in sich.

Um also die Gedankenwelt dieser Sinfonie, dieses Komponisten zu verstehen, muss man derlei mitdenken, einbeziehen, ins Extreme gehen. Im Gedicht ist in Teil II (äquivalent zum zweiten Satz der dreisätzigen Sinfonie) von göttlicher Liebe die Rede. Und wo in Vladimir Ashkenazys ekstatischer Aufnahme mit dem Berliner DSO die Holzbläser mit ihren Trillern und süßlichen Melodien zarteste Liebkosungen zu vollziehen scheinen, bleibt es in Leipzig, trotz wunderbar gestaltender Gewandhausholzbläser, nur ein impressionistisches Motivgewebe. Einzig im Finale entwickelt Kitajenko dank eines nach vorne gerichteten, hohen Grundtempos eine Sogwirkung. Allen Respekt gebührt den grandiosen, in gefährlichen Höhen spielenden Trompeten, vor allem dem ersten Solotrompeter, einer Aushilfe, da derzeit eine der Solostellen vakant ist. Er spielte mit Kraft und Klangschönheit sowie mit einer technischen Sicherheit ‚da oben’, dass einem schwindelig wurde. Bravo!

Dieses Finale fasst nochmals alle vorherigen Gedanken zusammen, um sie in einer strahlenden Coda als Synthese gleichsam zu überhöhen. Dabei geht Skrjabin auch harmonisch in Richtung Himmel, stößt fast beiläufig das Tor weit in die atonale Welt hinein auf und schafft es dennoch, nicht die innere Geschlossenheit des beinahe einstündigen Werkes zu gefährden. Der Applaus ist nach einer solchen Schlusssteigerung gewiss und groß. Dennoch bleibt eine leise Enttäuschung hängen. Diese betrifft Dirigat und Interpretation.

Dem Orchester gebührt allerhöchster Respekt. Nach einem Konzertblock von vier aufeinanderfolgenden Konzertwochen muss man den Gewandhäuslern bescheinigen, derzeit in Topform zu sein. In diesem Sinne: Auf Wiedersehen am ersten März, wenn Dennis Russel Davies im Großen Concert gastiert.

Großes Concert

Peter Tschaikowsky: Konzert für Violine und Orchester op.35

Alexander Skrjabin: 3. Sinfonie op. 43 „Le divin poème“

Frank-Michael Erben, Violine

Gewandhausorchester

Dimitrij Kitajenko, Dirigent

9./10. Februar 2012, 20 Uhr, Großer Saal des Gewandhauses zu Leipzig


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