Das Poetische ist überall

In „ich sitze nur GRAUSAM da“ schreibt Friederike Mayröcker konsequent weiter an ihrem Alterswerk

Friederike Mayröckers Werk ist so vielfältig und umfangreich wie kaum ein zweites einer deutschsprachigen Schriftstellerin. Aufs Akribischste ihrer eigenen Schreibsucht nachgehend, lebt die 87-Jährige in ihrer Wohnung in Wien, zwischen Waschkörben voll von Notizzetteln in einem Chaos, das man wohl nur als waschechtes Genie überblicken kann. Wer sich selbst einen Eindruck von diesem Messieleben verschaffen möchte, dem sei die Dokumentation Das Schweigen und das Schreiben von Carmen Tartarotti empfohlen. Diskret und eindrücklich zugleich begleitet Tartarotti den Schriftstelleralltag Mayröckers. Die Porträtierte legt gnadenlos die Zeiten fest, in denen gefilmt werden darf und macht gleich zu Beginn des Filmes deutlich, dass sie nur das Nötigste sprechen wird.

Liest man die Bücher von Mayröcker, die sich mit ihrem Werk wohl so etwas wie ein eigenes Genre erschaffen hat, erstaunt diese Eigenwilligkeit kaum, findet sich doch in den Texten nahezu alles, was man über die Autorin in Erfahrung bringen kann. In dem aktuellsten Prosaband ich sitze nur GRAUSAM da geht es um die Sommer, die die Autorin erlebt hat. Angefangen bei den barfüßigen Sommern der Kindheit in Deinzendorf über gemeinsame Urlaube mit ihrem langjährigen Lebenspartner Ernst Jandl bis hin zum Frühling des Jahres 2011, in dem der Spaziergang zur Besichtigung der knospenden Blumen ansteht. Die poetische Vorgehensweise ist dabei wie eh und je radikal subjektiv. Der Stoff des mayröckerschen Kosmos ist nichts weniger als ihr eigenes Leben und Lesen. Die Biographie der Autorin kreuzt sich immer wieder unmittelbar mit den momentan und zuletzt von ihr rezipierten Autoren, in diesem Falle Jean Genet und Jacques Derrida. Die Texte werden wieder und wieder durchstöbert, Friederike Mayröcker kann sich scheinbar niemals satt lesen an den beiden Franzosen und exzerpiert und collagiert diese Autoren mitten in ihren eigenen Text hinein.

Auch Maler wie Gerhard Richter und Raoul Dufy werden im Text immer wieder erwähnt. Scheinbar haben sie einen derartigen Eindruck hinterlassen, dass die Gemälde immer wieder, ähnlich wie Derrida und Genet, in den Text hineingezogen werden. Es wird also nicht nur die Sprache collagiert und mit weiteren Stimmen aufgestockt, nein, nahezu das ganze Leben wird „überschrieben“. Nicht umsonst wird immer wieder davon berichtet, wie der Stift der Autorin auf dem ganzen Körper seine Spuren hinterlässt. Ist dies eine Metapher oder altersbedingte Schusseligkeit? Vielleicht ist es aber auch der „abstrakte Liebreiz“, von dem immer wieder die Rede ist.

So ungewöhnlich wie interessant liest sich dieses Konvolut aus Erinnerungen und Sinneseindrücken. Wer aber über dieses Buch den Einstieg zur Autorin sucht, wird wohl arg überfordert sein. Der Geist von Mayröckers Mutter und die unabstellbare Erinnerung an Ernst Jandl sowie die geriatrischen Selbstbetrachtungen aus Mayröckers letztem Buch finden derartig unerwartet immer wieder Eingang in den Text, dass einem als Neuling dann doch schnell der Kopf schwirren könnte bei einer solchen Themenfülle in diesem schmalen Band. Wer Zugang zu dieser „mächtigen Sprach-Zauberin“ (Uwe Tellkamp) sucht, dem sei dringend ihr 2005 erschienenes Buch Und ich schüttelte einen Liebling angeraten. Wer damit anfängt, kommt von dieser Autorin nicht mehr los.

Friederike Mayröcker: ich sitze nur GRAUSAM da

Suhrkamp Verlag

Berlin 2012

141 S. – 17,95 Euro


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