Identitätsspuren

In „Ein neunundzwanzigster Februar“ tritt die Schaubühne Lindenfels in einen Dialog mit dem Zuschauer

Fotos: Christian Hüller / Schaubühne Lindenfels

Die Schaubühne Lindenfels hat den roten Teppich ausgerollt. Wer sich auf die erste Theaterproduktion des „assoziierten Ensembles“ einlässt, findet sich zunächst ganz allein auf einem schweren Läufer im Ballsaal wieder. Dort, wo vor über hundert Jahren die Reifröcke der Damen über den Parkettboden fegten, verleiht er dem Raum an diesem Abend alten Glanz. Vor der Bühne stehen fünf aus Holz gezimmerte Boxen mit Türen. Eine der Lampen dort leuchtet grün auf. Es ist das Zeichen, um am Ende des roten Teppichs eine Tür zu öffnen. Das Abenteuer Ein neunundzwanzigster Februar beginnt.

„Die Verbindung zwischen Zuschauer und Schauspieler ist vergleichbar mit einer Nabelschnur. Das ist eine fragile Beziehung“, sagte Regisseur Frank Heuel vor der Premiere in einem Interview. Um diese Beziehung geht es in seinem Stück. Und sie gerät enger, als der Zuschauer erwarten mag, weil die räumliche Distanz im ersten Teil der Produktion völlig fehlt.

In den Boxen hinter den Türen warten vier Schauspieler. David Jeker sitzt auf einer Matratze, vor ihm ein Laptop. Die Zettel und Filmplakate an den Wänden lassen den Raum so privat wirken, dass sich der Zuschauer vorerst wie ein Eindringling fühlt. Doch das Gefühl verfliegt schnell. Es entspinnt sich ein Gespräch über den Film, der auf dem Laptop läuft: Pierrot le fou von Jean-Luc Godard. Er wolle sich Inspiration für seine nächste Rolle holen, erklärt Jeker. Und kurz darauf fragt er, ob man dieses Gefühl kenne, mehrere Identitäten zu haben und nicht zu wissen, was das eigentlich sei: das eigene Ich. Die Nabelschnur, sie wird im Laufe dieses Gesprächs fester und fester. Viel zu schnell beendet ein Lichtsignal die Begegnung in der Box. „Ich hätte mich noch ewig weiter unterhalten können“, gesteht draußen eine Mit-Zuschauerin, die für diesen Abend Frauke heißt.

Das Verteilen von Namensschildern vor Beginn des Stücks erzeugt das seltsame Gefühl, sich selbst als Teil des Bühnenpersonals wahrzunehmen. Aber genauso wie bei den Schauspielern scheint die Grenze zwischen Rolle und Person fließend zu sein. Das macht den Zauber von Ein neunundzwanzigster Februar aus. Wann spricht in der Box die Privatperson David Jeker, wann die Figur, die er sich für die Box übergestülpt hat? Dieser verwirrende Eindruck dauert selbst dann noch an, als er und Sophie Lutz, Laila Nielsen und Johannes Gabriel im zweiten Teil der Produktion gemeinsam auf der Bühne stehen. Unwillkürlich sucht man bei Ferdinand aus Pierrot le fou nach Spuren des David Jeker aus der Box. „Man müsste die Zeit anhalten“, sagt er. Er oder Ferdinand?

Ein neunundzwanzigster Februar wird im Begleitheft zum Stück als „eine leise Annäherung an das, was das Theater im Ursprung war und heute sein kann: ein Ort der Verführung, des Zaubers, der Möglichkeiten“ angekündigt. Diesen Anspruch löst die Schaubühne Lindenfels auf allen Ebenen ein. Weil der Zuschauer nicht wie üblich zum Konsumenten einer Bühnenhandlung degradiert, sondern selbst zum Teil des Spiels gemacht wird. Und weil die Begegnung mit dem Menschen in der Box noch Tage nach der Aufführung nachhallt.

Ein neunundzwanzigster Februar

R: Frank Heuel

Mit: Johannes Gabriel, David Jeker, Sophie Lutz, Laila Nielsen

Premiere: 29. Februar 2012, Schaubühne Lindenfels


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