Kaleidoskop des Authentischen

In der Dokumentation „Marley“ von Kevin Macdonald wird eine Legende menschlich

In den 144 Minuten kommen nicht nur die Reggae-Legende selbst, sondern über 40 Weggefährten zu Wort (Bilder: StudioCanal)

Bob Marley ist eine Legende. Doch so bekannt seine Songs heute ― mehr als 30 Jahre nach seinem Tod ― sein mögen, so wenig weiß die breite Masse über seine Persönlichkeit. Es ist vermutlich bekannt, wie er aussieht. Schließlich zieren das Gesicht des Rastafaris und ein überdimensionaler Joint klischeehafte Fan-T-Shirts in Jamaikafarben. Aber diese T-Shirts zeigen eine Maske, die Marley posthum verpasst wurde. Die Frage danach, wer Bob Marley war und wie er zu der Ikone werden konnte, die er bis heute ist, kann aber kein Merchandising-Artikel beantworten.

Die Dokumentation Marley begibt sich auf die Suche nach Bob Marleys Identität und bastelt aus kleinsten Schnipseln eine bunte Collage. Regisseur Kevin Macdonald (Der letzte König von Schottland) dokumentiert, archiviert und huldigt dem Leben und Wirken des Musikers, des Revolutionärs, aber auch und vor allem dem Menschen Bob Marley. Der Film rekonstruiert seine Lebensgeschichte chronologisch ― fängt nicht beim Mythos, sondern bei den Ursprüngen des Mannes an, der zu einer Personifikation von Frieden, Liebe und Freiheit geworden ist. Beginnend bei seinen Eltern und seiner Herkunft, bringen die Bilder dem Zuschauer seine Kindheit, Jugend und den langen Weg auf die Spitze des Reggae-Olymps näher. Aber auch die Krebserkrankung, die Marleys nach langem Kampf kapitulieren ließ, wird bebildert und emotional nacherzählt.

Marley folgt dem klassischen Muster von Dokumentationen über verstorbene Helden: Weggefährten werden interviewt, schildern ihre Erlebnisse mit dem Porträtierten, und das von ihnen Gesagte wird mit Hilfe von Fotos und Filmmaterial bebildert. Mehr als 40 Personen kommen zu Wort und teilen persönliche Erinnerungen. Von Marleys erster Lehrerin, die ein Lied singt, das Marley in seinen Kindertagen liebte; über Freunde, Musikerkollegen, seine Kinder und entferntere Verwandte bis hin zur deutschen Krankenschwester, die Marley im Kampf gegen den Krebs pflegte. Durch Schilderungen der verschiedensten Menschen entsteht ein Kaleidoskop aus Eindrücken über den Musiker, den Freund und das Familienmitglied Bob Marley.

Bob Marley, wie es das Klischee will: der lässige Musiker mit Joint in der Hand

Aber nicht nur diejenigen, die Marley um sich hatte, sondern auch er selbst kommt zu Wort. Kurze Interviewsequenzen, zum Teil unveröffentlicht, kreieren das Bild eines sympathischen Mannes, der für so viele eine Ikone war und ist. Wenn Marley erzählt, wirkt er stets fröhlich und zufrieden. Als er davon spricht, dass er sich ein friedliches Zusammenleben aller Menschen wünscht, scheint er das nicht salopp daher zu sagen, sondern tatsächlich so zu meinen. Das mag nicht zuletzt an den nahen Einstellungen liegen, in denen er dann zu sehen ist. Seine Mimik bleibt deutlich erkennbar, Marley strotzt in diesen Momenten vor Willensstärke. Ähnlich wird Marley auch in den vielen Sequenzen von Konzertmitschnitten dargestellt, die Teil der filmischen Gestaltung sind. Durch diese Kameraführung scheint Bob Marley dem Zuschauer verbunden zu sein, begegnet ihm auf einer Ebene und ist in erster Linie ein Mensch und nicht etwa eine unantastbare Legende.

Besonders beeindruckend sind die Aufnahmen eines Konzerts in Simbabwe, das anlässlich der Unabhängigkeitsfeier des Landes im April 1980 veranstaltet wurde. Marley wurde nach Simbabwe eingeladen und kam für einen Teil der Veranstaltungskosten auf, da diese sonst unmöglich hätten gedeckt werden können. Sein Lohn? Feiernde, ausgelassene Menschenmassen; dicht an dicht gedrängt auf einer Fläche, die im Normalfall lediglich die Hälfte der Anwesenden fassen könnte. Sie alle himmeln ihn an, den Helden, der der Masse gegenüber steht und das ausspricht, was sie denken, sie zum Aufstand ermutigt und so Freiheitsbewegungen auf der ganzen Welt eine Hymne verleiht, mit der er die Menschen nicht zuletzt zum Tanzen bringt.

Der Film „Marley“ ist Biografie und Best-of-Album zugleich

Es wäre befremdlich, würde Marleys Musik nicht auch ihren Platz in der Dokumentation finden. Sein erster Song „Judge Not“, den Marley mit 16 Jahren aufnahm, „Simmer Down“ ― der ersten Hit seiner Band The Wailers und seine weltbekannten Hymnen „Get Up, Stand Up“ oder „One Love“; sie alle finden Erwähnung im Film, ohne aber dessen Zentrum zu bilden. So ist Marley zugleich ein Best-of-Album der Reggae-Legende, das unbeschwerte Freiluftgefühle aufkommen lässt.

Nein, Marley ist kein quietschvergnügter Drogenfilm für laue Sommernächte, der auf farbenfrohe, euphorische Bilder reduziert werden kann. Die 144 Minuten Laufzeit kontrastieren diese durch langsame, nachdenkliche und schwermütige Aufnahmen: Die Kamera fährt bedächtig eine kurvige, von Bäumen eingerahmte Bergstraße nach unten. Die Farben sind dabei so ungesättigt, dass sie beinahe schwarz-weiß erscheinen. Die Straße führt nach Bayern; in die Klinik, in der Dr. Josef Issels versuchte, Marley zu heilen. Was von Marley aus dieser Zeit geblieben ist, sind Schwarzweißfotos, die ihn nachdenklich zeigen und die Spuren der Krankheit nicht verbergen können. Meilenweit scheinen in diesen Filmminuten die Aufnahmen zurückzuliegen, in denen Marley tanzend auf der Bühne stand.

Kann eine Dokumentation über Bob Marley den Zuschauer in einer so angespannten, melancholischen Stimmung zurücklassen? Sie könnte, aber sie tut es nicht. Zum Abspann werden junge Menschen aus aller Welt gezeigt, die „Get Up, Stand Up“ singen und freudestrahlend in die Kamera blicken. Und genau jetzt kann man nachvollziehen, warum Bob Marley noch heute eine derartige Faszination ausübt. Er hinterlässt eine Utopie von Frieden und Gemeinschaft, und ist dabei gerade für die Armen und Unterdrückten glaubhaft ― denn er blieb trotz seines Erfolgs immer einer von ihnen.

Marley

Großbritannien/USA 2012, 144 Minuten

Regie: Kevin Macdonald; Darsteller: Rita Marley, Neville Garrick, Ziggy Marley, Cedella Marley, Rohan Marley

Kinostart: 17. Mai 2012


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