Anarcho-Inferno

Das in Dresden beheimatete Tanzensemble Derevo führt mit „Ketzal II. Noah’s Ark“ in eine surreale Traumwelt düsterer Gestalten

Foto: N. Krymskaya

Der süßlich-modernde Geruch von feuchter Erde steigt in die Nase. Ein Klang von industrieller Kälte erfüllt den Saal. Das dumpfe Dröhnen gibt unaufhaltsam den Takt an. Durchdringend als würde ein gewaltiger Hammer auf einen Amboss stürzen. Ein Vogel flattert auf der Bühne unheilversprechend mit seinen stumpfen Flügeln. Das einst so stolze Gefieder trägt ihn nicht mehr weit. Der Vogel flog aus und kehrt nicht wieder. Er wird zum Unglücksboten, denn diesmal scheint kein Olivenzweig weit und breit.

Es ist ein schauriges Panoptikum, das Anton Adassinsky in der Fortsetzung seines 2004 entstandenen Stückes Ketzal II auf die Bühne bringt. Der Name Noah’s Ark lässt eine apokalyptische Endzeitstimmung erahnen und genau diese findet der Zuschauer beim Betreten des Saales vor. Der Bühnenboden ist mit dunkler Erde bedeckt, das Licht ist dämmrig und wird es während der gesamten Aufführung auch bleiben. Ein metallisches Hämmern, Wummern und Schaben ertönt in mechanischen Abständen. Das Echo prallt von den Wänden und versetzt den Zuschauer in die trübe Enge tiefliegender Schächte.

Wie die Verbildlichung surrealer Traumwelten breitet sich das Geschehen vor dem Zuschauer aus. Makabere Wesen, halb Mensch, halb Tiergestalt, betreten die Bühne. Die wulstige Stirn und die aufgeworfene Nase sind zur schaurigen Grimasse entstellt. Eine Gruppe Clowns sitzt am Rand und bestaunt mit offenen Mündern das Glitzerspiel ihrer Edelsteine. Ein anderer tanzt am Bühnenrand wie von fremder Hand bewegt, während eine weiße Blüte aus seinem Rücken sprießt. Den Fremdkörper entdeckend, sinkt er langsam in sich zusammen und hinterlässt eine Rauchwolke als wäre er zu Staub zerfallen.

Probenfoto: Anna Bogodist

Nackt oder in mehrlagige Fetzen gehüllt kriechen, tosen und hinken die fünf russischstämmigen Tänzer des Bewegungstheaters Derevo über die Bühne. Mal wüten sie wie in einem Anfall von Epilepsie zu rasendem Kriegsgeknatter und ohrenbetäubendem Hubschrauberlärm. Dann wieder bewegen sie sich wie in einem gespenstigen Delirium zu den schmerzlich-melancholischen Klängen eines Klagelieds und mystischem Glockenspiel. Mit ihren kahl geschorenen Köpfen und den sehnigen Gliedern haftet den Tänzern trotz ihrer kraftvollen Bewegungen etwas Morbides an. Ihre Körper wirken knöchrig, ausgemergelt und auf fatale Weise gebrochen.

Was Regisseur Anton Adassinsky in seinem neuen Stück so bildgewaltig auf die Bühne bringt, gleicht einem berauschenden Bewusstseinsstrom, der sich irgendwo zwischen menschlichen Urformen von Angst, Triebhaftigkeit und Verderben ansiedelt. Dafür lässt er eine infernale Untergangsstimmung entstehen, die nicht zuletzt von Licht- und Sounddesignern eindrucksvoll in Szene gesetzt wird: Daniel Williams webt einen Klangteppich von beklemmender Eindringlichkeit und Igor Fomin lässt durch sein gekonntes Lichtspiel ganze Bühnenbilder entstehen und vergehen.

Der biblische Stoff von einer gewaltigen Flut, die bis auf die Arche des klugen Noah alles Irdische dahinrafft und mit sich reißt, dient als Schlüssel, um den anarchischen Bilderstrom des Stückes sinnhaft zu deuten. Dass es hier nicht um die simple Wiederbelebung der Überlieferung aus dem Alten Testament gehen soll, wird schon in der ersten Szene deutlich: Die Tänzer evozieren das darwinsche Bild vom sich aufrichtenden Menschen, indem sie in einer endlosen Reihe quer über die Bühne ziehen und ihre verrenkten Glieder mit jedem Schritt weiter emporstrecken. Wie eine Klammer, die das dazwischenliegende Chaos umfasst, kommt es zum Ende des Stückes zur selben Szene in nur umgekehrter Richtung: Vom aufrechten Gang verfallen die Tänzer immer mehr in die gebückte Haltung ihrer Vorfahren.

Foto: N. Krymskaya

Das Stück handelt also von der Evolution und Degeneration des Menschen. Sie bilden gleichsam Ausgangs- und Schlusspunkt des Stückes. Dadurch, dass Adassinsky den Entwicklungsfortgang jedoch verkehrt, schreibt er dem aufrechten Menschen das Chaos zu und zeigt, wie sein destruktives Wirken zirkulär zurück in das Stadium des Primaten führt.

Wie eine Spirale führt die menschliche Existenz fortwährend in die Zersetzung und eigene Auslöschung. Genau wie Gott angesichts dieses Treibens entschied, alles Leben mit einer gewaltigen Sintflut auszulöschen, so kommt es auch bei Adassinsky in der finalen Szene zu einem bereinigenden Wassersturz, der alles mit sich fortspült und vergehen lässt. In seiner Auslegung der Arche Noah erscheint jedoch kein hoffnungsvoller Regenbogen am Himmel, der für das Versprechen steht, nach dem Regen die Sonne folgen zu lassen. Der Regenbogen geht ganz einfach gemeinsam mit den Menschen unter. Übrig bleibt ein stummer Körper, der sich mithilfe eines riesigen Skeletts über Wasser halten konnte und wie Noah das irdische Leben von neuem beginnen lassen wird. Ob man das nun als Kulturpessimismus bezeichnen möchte oder darin doch einen Funken Hoffnung erkennen mag, scheint jeder für sich selbst beantworten zu müssen.

Der Saal bleibt zum Ende der Vorstellung rätselhaft still. Als müsste sich der Zuschauer erst den Weg zurück in die Wirklichkeit bahnen, steigt der Applaus erst beim dritten Auszug der Tänzer zur gebührenden Lautstärke an.

Derevo: Ketzal II. Noah’s Ark

R: Anton Adassinsky

Mit: Derevo

Premiere: 13. April 2012, Schaubühne Lindenfels


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.