Different Trains

Das Leonis Quartet brilliert in Rom mit Ravel, Schilingi und Reich

Fotos: Steffen Kühn

Man muss ein wenig suchen, bis man in Rom einen Aufführungsort für klassische Musik findet. Das 2002 fertiggestellte Auditorium Parco della Musica des britischen Stararchitekten Renzo Piano liegt etwas außerhalb. Es ist ein gigantischer Komplex mit mehreren Sälen, welche sich kreisförmig um eine Arena gruppieren. Verkleidet sind die Säle in einem Allover aus dunklem Blech. Diese Gestaltung hat dem Komplex unter den Römern den Spitznamen Kakerlake eingebracht. Etwas abweisend wirkt die Anlage schon, besonders aber durch die Lage, eingezwängt zwischen großen Straßen − eine Hochstraße zischt drohend in fünf Meter Höhe. Ob auch das ein Grund war, weshalb zu dem Konzert des jungen Leonis-Quartetts nur 200 bis 300 Zuhörer gekommen waren? Der riesige Sinopoli-Saal hätte noch 1.000 Zuhörer mehr vertragen können. Für einen Freitagabend in der Millionenstadt Rom ist so ein leerer Saal schon ein eigenartiges Erlebnis. Die vier Musiker des Quartetts störte das zum Glück nicht. Sie verweisen alle in ihren Biografien auf das Kronos-Quartett, und dem heutigen Programm spürt man diese Vorbilder deutlich an.

Maurice Ravels einziges Streichquartett wurde 1903 uraufgeführt, zehn Jahre nach dem Erfolg des Streichquartetts von Claude Debussy. Ravel verhehlte dieses Vorbild nicht, von seinem Lehrer Fauré, dem das Stück gewidmet ist, erhielt Ravel allerdings einige kritische Worte. Das Leonis-Quartett braucht sich heute um solche musikgeschichtlichen Petitessen nicht mehr zu kümmern, die vier Musiker lassen sich auf Ravels ausgeprägten Klangsinn ein. Die Themen werden kunstvoll modifiziert, die für Ravel so typischen harmonischen Mehrdeutigkeiten lassen die Musik schillern und changieren, in hellen Momenten wirkt das Stück wie der klassischen Moderne vorweggenommen. Besonders auch im Finale, durch die Kombination von verschieden Taktarten. Ein toller Einstieg in das Programm, enthusiastischer Beifall für den ambitionierten Start in den Abend.

Jacopo Baboni Schilingis Stück De la Nature de Sacre verlangt dem Publikum viel Kraft ab. Detonationen, zerberstendes Material, metallische dumpfe Stöße begleiten die vier Musiker. Relativ tonale horizontale Linien stemmen sich gegen diese martialischen Zuspielungen. Nach cirka fünf Minuten glaubt man die ersten Wiederholungen zu erkennen, dramaturgisch sind da schon sehr viele Effekte verschossen, chaotische Tuttis auf- und abgebaut. Das Stück arbeitet mit viel Elektronik, Halleffekte verändern die akustischen Klänge der Instrumente. Was fehlt, ist die spürbare Interaktion zwischen Instrumenten und Computer, zwei Plots laufen da nebeneinander. Effektvoll auch das Ende, danach eine kurze Pause, die man auch nötig hat.

1988 schuf Steve Reich Different Trains. Auch durch die grandiose Einspielung des Kronos Quartetts ist es wohl zu seinem populärsten Stück geworden. Reich verarbeitet in dem Stück eigene Erfahrung aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Bahnreise führte ihn damals von New York nach Los Angeles, wo sich seine Eltern aufhalten mussten. Später wurde er sich bewusst, dass zu dieser Zeit in Europa Millionen Menschen vor allem Juden in Zügen zu den Vernichtungslagern der Nazis gebracht wurden. Reich kombiniert Interviews mit Überlebenden und gesampeltes Material, verstärkt und bricht die musikalischen Linien dadurch. Das typische Dröhnen von alten Zügen ist allgegenwärtig und verleiht dem Stück eine bedrohliche Atmosphäre. Interaktiv bewegen sich die Musiker im musikalischen Plot, verstärkt wird die Dramaturgie am heutigen Abend durch gezielte Lichteffekte. Die Instrumente werden elektronisch verfremdet, sie dröhnen bald wie das gesampelte Material selbst. Faszinierend fällt diese Aufführung aus und damit hat sich das Leonis-Quartett gegenüber seinem Vorbild, dem Kronos-Quartett heute großartig etabliert. Die subtile Programmgestaltung von Ravel über Schilingi bis zum fast schon zum Ohrwurm gewordenen Different Trains präsentiert eine Vielfalt der klassischen Musik. Man wünscht sich mehr Publikum an solchen Abenden!

Stagione di Musica da Camera

Maurice Ravel: Streichquartett in F-Dur

Jacopo Baboni Schilingi: De la Nature du Sacre für Streichquartett und Live Computer (Uraufführung)

Steve Reich: Different Trains Streichquartett mit Zuspielband

Leonis-Quartet

Violine: Guillaume Antonini & Sébastien Richaud

Viola. Alphonse Dervieux

Violoncello: Jean-Lou Loger

18. Mai 2012, Parco della Musica, Sala Sinopoli, Rom


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