„Und was macht man damit?“

Ein Publikum betrachtet sich selbst: „Gehen Sie über Los“ auf der TheaterPACK-Sommerbühne im Westwerk – 2. Platz beim 7. Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2012

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Die Germanenten (Foto: TheaterPACK)

Drei Studentinnen stecken fest. Drei Lebensentwürfe zum Zeitpunkt ihrer akademischen Grundlegung, hier schon stottert die Maschine Mensch. Ob mit oder ohne Masterplan, von Tag zu Tag schlendernd oder hetzend, die Frage ist stets dieselbe: „Was bringt es mir, dieses Studium?“ „Gehen Sie über Los“ von Alin S.*, Germanistikstudentin an der Universität Leipzig, ist ein Theaterstück über den immer wieder scheiternden Versuch, das Studium in irgend einer Weise für das Leben nutzbar zu machen, es jenseits der jeweiligen inhaltlichen Fragestellung zu verstehen. Also: Was ist das Wesen des Studiums? Porträtiert wird eine Generation, die sich in dem Versuch einer Sinngebung zerreibt.

Als gemeinschaftliche Seminararbeit für die Tagung „Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit und Arbeitskulturen in medialer Reflexion“ entstanden, wurde das Stück am 6. Juni 2012 auch auf der Sommerbühne des Westwerks aufgeführt. Zwei Stühle, Zwei Tische (darauf verteilt: Bücher und Küchengeräte), ein Sofa, utopische To-Do-Listen zieren die Wände im Hintergrund: viel mehr braucht es nicht. Ein Bauzaun trennt die Bühne vom Parkplatz des Geländes. Während der Aufführung kommen Autos an und fahren ab, einmal übertönt ein Motor die Schauspielerinnen. Das Publikum ist jung, Studenten – Betroffene also. Man kennt sich.

Die Handlung ist dem Unialltag entnommen: Ina ist neu in der Stadt, neu an der Uni, Erstsemester Germanistik, idealistisch und blauäugig. Und sie ist „die Neue“ in der WG. Marie studiert Jura und kennt sich aus, Leben heißt bei ihr Planung, also nimmt sie sich der desorientierten neuen Mitbewohnerin an und unterrichtet sie in der Kunst von Organisation und Optimierung. Ella ist die Dritte im Bunde. Sie studiert Schauspiel und steht kurz vor ihrem Abschluss, ausgelassen überspielt sie ihre zunehmende Verunsicherung. Eigentlich sind da noch Max, der Medizinstudent, und Ignazius von und zu Bösental, doch beide treten nicht in Erscheinung, sie bleiben Phantome, ersterer will dann doch nur mit Marie befreundet bleiben, erzählt die Unglückliche, letzterer hingegen habe plagiiert und würde nun exmatrikuliert, weiß Ella. Die Szenen sind durch kurze Einschübe voneinander getrennt. Zwei anonyme Studentinnen, schwarzgekleidet, weißmaskiert, sonnenbebrillt, durchmessen den Raum wie Roboter. Sie verlesen mit monotoner Stimme ihren statistischen Wert, abstrakte Studienordnungen und große Worte großer Geister. Mit Taschenlampen leuchten sie willkürlich in die Gesichter der Zuschauer, als forderten sie sie heraus: „Euch betrifft es doch auch!“

Mit Witz und Selbstironie inszeniert das 7-köpfige Team die turbulenten Studienjahre. Leistungsdruck und Lebenslaufoptimierung, Sinn- und Orientierungslosigkeit, Kompromisse und Rückschläge: All das scheint dem Publikum bekannt. So ist das Stück vor allem Selbstbeobachtung. Wissend wird geschmunzelt und gelacht, wiedererkannt.

Dabei erscheint das Studium in allen drei Fällen als ein Missverständnis. Was bei Marie und Ella nur erahnt werden kann – ihre Studiengänge könnten nahtlos, zwingend in einen passenden Beruf münden –, wird bei Ina umso augenfälliger. Die Germanistik ist ein weites Feld, sie eröffnet Möglichkeiten und damit zugleich Verunsicherung. Vor der frühen Optimierung des eigenen Lebenslaufs ist indes auch sie nicht gefeit. Wie ihre Mitbewohnerinnen sucht sie sich einen Nebenjob, der das Studium aufwertend ergänzt, also irgendwie mit Büchern zu tun hat: sie jobbt bald in der Unibibliothek und ihre Chefin ist die verhasste „Trulla“. So verkommt das Studium zum bloßen Vorspiel, zur notwendigen Bedingung des späteren Berufs; es ist überhaupt nur in ökonomischen Kategorien wert- und sinnvoll, begrifflich fassbar, denkbar; es ordnet sich ein in die witzlose Teleologie des pragmatischen Lebens. Ina, Marie und Ella sind die schillerschen „Brodgelehrten“, sie betreiben „Brodstudien“, Studium als Selbstzweck denken sie nicht. Alle drei erkennen, dass etwas schiefläuft, doch was es ist, bleibt ihnen verborgen, kann nicht auf den Punkt gebracht werden. Und so bleibt der von Ella initiierte choreografierte Kollektivausbruch am Ende folgenlos. Er ist Moment und wird durch Resignation ersetzt. Was bleibt, sind die fragenden Gesichter der Figuren und des Publikums, das sogar noch seinen Einsatz verpasst und erst klatscht, als sich die Schauspielerinnen vor der Bühne aufreihen.

„Gehen Sie über Los“

Regie: Alin S.; Darsteller: Lena Franke, Nadine Kelber, Alin S., Anna Sonntag und Paulin Wagner

6. Juni 2012, TheaterPACK-Sommerbühne im Westwerk

Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik

* Namenskürzung auf eigenen Wunsch. Die Redaktion, Juni 2019.


Ein Kommentar anzeigen

  1. Ich seh das anders als Peter.

    Eintritt teuer, ja. Kein Klo, ja.

    Das Stück hat mir aber sehr gut gefallen. Es hat angesprochen, was ich genauso im Studium erlebt habe und an vielen Stellen habe ich mich selbst wiedererkannt.

    In einer anderen Location hätte das Stück wahrscheinlich noch viel besser gewirkt.

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