Rebellen, an die Posaunen!

Extra Action Marching Band auf Europa-Tour: Die Blechblas-Guerilla wütet im UT Connewitz. Der Gewinnertext: 1. Platz beim 7. Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2012

Die Extra Action Marching Band im Juli 2009 (Foto: lanadandan, CC-Lizenz)

Reißt nieder das Selbstverständnis von Sitte und Anstand, in Stücke die aufgesetzte Moral und euch auf keinen Fall zusammen! So oder ähnlich muss es Simon Cheffins, Kopf der extrovertierten Extra Action Marching Band, seinem Zwanzig-Köpfer aus blechblasenden, schlagwerkenden, Pompon schüttelnden und hüftschwingenden Kaliforniern für die bevorstehende Bühnenshow eingebläut haben. Denn das, was das bedingungslos verrückte Oaklander Ensemble im geschichtsträchtigen Kinosaal des UT Connewitz inszeniert, stellt die (heutzutage gut geschulten) Ego-Ausbrüche gängiger Rock/Pop-Konzerte rotzfrech in den Schatten.

Keine drei Takte dauert es, bis ein Quintett blondperückter Cheerleader in Glitzer-Tangas das Publikum nach vorn treibt, mit ihm auf Tuchfühlung geht – Umarmungen und Halsküsse hier, Porno-Posen und ekstatische Anmachen dort – und in wilder Entschlossenheit zum Tanzen animiert. Posaunen und Trompeten knarzen Stakkato-Salven in den Saal, von Tuben umschlungene Südstaatler in kurzen Hosen und Zirkus-Westen schieben Humpa-Humpa-Basslinien darunter. Fünf Tieftrommler und Percussionisten prügeln martialisch ihre Schlagfelle, schnelle Wirbel sind die taktfüllende Maxime, irgendwo zwischen „Samba de Janeiro“ und Safri-Duo. Aufbrausend, dynamisch, den Beat am Tempolimit, wechseln die Genres so schnell wie die Titel; von typisch amerikanischen High-School-Hymnen über New-Orleans-Nummern Marke Mardi Gras, hin zu Osteuropas bittersüßen Balkan-Melodien und – in der Tat – einer Coverversion von Black Sabbath‘ „Behind the Wall of Sleep“. Würde Ozzy Osbourne jetzt auftauchen und, wie zu seinen besten Zeiten, einer Fledermaus den Kopf abbeißen, im turbulenten Chaos dieses Abends wäre keiner der Gäste verwundert.

Neben allen klanglichen Reizen setzt der selbstbewusste Haufen auf Sex-Appeal á la Rocky-Horror-Show. Die Glitzer-Girls räkeln sich auf dem kalten Steinboden die Libido aus dem Leib (wenn sie nicht gerade einem Zuhörer auf die Schultern springen) während halbnackte Männer in Hotpants im Hintergrund schwarz-rote Flaggen schwenken. In einem Bundesstaat, in dem die Porno-Industrie jährlich mehrere Milliarden Dollar umsetzt, mag das zum guten Ton gehören, den anfänglichen Kulturschock muss aber selbst das Tumult gewohnte Connewitzer Publikum kurz verdauen, bevor es ihn genießen kann. Die Extra Action Marching Band ist der personfizierte Punk, ein ungestümes Ungetüm marschierender Rebellen auf Konfrontationskurs mit dem Normalen, Gesetzten, Biederen. Anarchie ohne Mittelfinger, denn Cheffins ironischer Gegenentwurf zur Gesellschaft wird anderweitig deutlich: verwischte Schminke entgegen schöner Fassaden, ausgelebte Tanzwut entgegen bürgerlicher Spießigkeit, triebhafte Gesten entgegen verklemmter Gefühlsunterdrückung. Kritik als musikalische Spaß-Botschaft, frivole Lebenlust, ansteckende Freude an der Exzentrik und zelebriertes Anders-Sein bilden das Manifest der kalifornischen Kapelle, die vor der erzwungenen Ästhetik des einhundert Jahre alten Portikus-Reliefs, vor den geradlinigen Pilastern und der geschwungenen Loge von Leipzigs ältestem erhaltenen Lichtspielhaus keinen krasseren Kontrast bilden könnte. Ein Glück, mag manchBesucher denken, dass im Union-Theater noch immer Putz von den Wänden bröckelt und der marode, kaputte Charme der Szene-Location die aberwitzige künstlerische Darbietung letztlich in ein Gesamtbild fern herausgeputzter Oberflächen taucht.

Am Ende des 90-minütigen-Spektakels, dessen Hauptteil die Combo mit überschwänglichen aber liebevollen Verbrüderungsabsichten unterhalb der Bühnenkante verbracht hat, schenkt die Extra Action Marching Band den Konzertgängern noch ein Souvenir für den Weg nach Hause: das gute Gefühl, seit langem etwas völlig Verrücktes erlebt zu haben.

Extra Action Marching Band, Europa-Tour 2012

13. Juni 2012, UT Connewitz

Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik


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