Auf den Wegen eines Apfels

Zwischen Kassel und KZ: Ein Einblick in die Documenta 13

Das Schild am kleinen Apfelbaum abseits des Documenta-Trubels (Fotos: Maximilian Beer)

Umgeben von dunklen Tannen, großen Birken und all den anderen Bäumen und Sträuchern wirkt er einsam und fast schon ein wenig zerbrechlich auf der kleinen Lichtung, auf der er seinen Platz gefunden hat. Hier, nahe der Orangerie und abseits des städtischen Documenta-Trubels, hört der Vorbeigehende Vögel zwitschern und Blätter rauschen – und würde vor lauter Grün womöglich das Bäumchen übersehen, wäre da nicht ein Schild, das darauf aufmerksam macht. Der junge Apfelbaum, der von Carolyn Christov-Barkargiev gepflanzt wurde, ist Teil der diesjährigen Documenta, die zum 13. Mal Besucher aus aller Welt nach Kassel lockt und als eine der wichtigsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst gilt.

Und vielleicht ist hier, in einer der vielen Parkanlagen Kassels, genau der richtige Ort, um sich der außergewöhnlichen Geschichte der Herkunft des Baumes zu nähern. Der Ursprung des Baumes und der zu ihm gehörigen Apfelsorte KZ-3 war, so paradox es klingen mag, das Konzentrationslager Dachau. In dieser lebensfeindlichen Umgebung züchtete der 1885 geborene bayrische Priester und Gärtner Korbinian Aigner auf der lagereigenen „Plantage“ die Sorten KZ-1, KZ-2, KZ-3 und KZ-4. Aigner, auch „Apfelpfarrer“ genannt, hatte in den 1930er Jahren wiederholt offen den Nationalsozialismus kritisiert, woraufhin er 1941 in das Konzentrationslager Dachau deportiert wurde. Heute wird lediglich noch die Sorte KZ-3 angebaut und ist mittlerweile besser als „Korbiniansapfel“ bekannt.

Allein der Gedanke daran, dass in einem Konzentrationslager etwas so Lebendiges entstehen kann, lässt den Documenta-Apfelbaum größer und stärker erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. So stark, dass seine Vorfahren nicht nur die Jahre im Konzentrationslager an der Seite ihres Züchters überstanden, sondern zusätzlich bis heute an die einzigartige Biografie des Pfarrers erinnern.

Bilder 1-4: Maximilian Beer; Bild 5: Joel Hausting & Mats Martinsohn

Nachdem der Betrachter des Baumes sich von diesem abgewandt hat, wächst der Strom an Kunstinteressierten auf dem Weg in die Innenstadt, aus dem Auepark heraus und vorbei an der Documenta-Halle, immer mehr an. Wie viele von ihnen wohl von der Geschichte, die hinter dem unscheinbaren Baum steckt, wissen?

Angekommen auf dem von Menschen und Imbissbuden gesäumten Friedrichsplatz, findet sich der Besucher vor dem Fridericianum wieder. In ihm, einem der ersten öffentlichen Museen Europas, kommt eine weitere Facette Korbinian Aigners zum Vorschein. Der Raum im ersten Stock des Gebäudes ist ganz in Weiß gehalten. Doch nicht nur die Farben bilden einen Kontrast zu denen des Parks. Auch die Atmosphäre, teils durch das alles dominierende Weiß bedingt, ist eine gänzlich andere als die, die das Apfelbäumchen umgibt. Sie hat etwas fast schon Steriles. Wo im abgelegenen Parkwinkel Vogelzwitschern und Blätterrauschen erklang, hört man jetzt lediglich hier und da das Klicken einer Kamera und leises Flüstern. An den hohen Wänden sind Bilderrahmen dicht nebeneinander aufgehängt. In ihnen sieht der Betrachter sechs Zeichnungen im Postkartenformat. Jede zeigt einzeln oder paarweise die von Korbinian Aigner gezeichneten Äpfel.

Jede Zeichnung eine Apfelsorte, jede Sorte eine individuelle Farbe und Form. Zwischen 1910 und 1960 kam Aigner – rechnet man seine Bilder von Birnen hinzu – auf zirka 900 solcher Abbildungen. Die verschiedenen Arten tragen Namen wie King of Kingsworth, Prinz Albrecht von Preußen, Minister von Hammerstein oder Halberstädter Jungfernapfel. Sie sind es, Rahmen für Rahmen dicht aufgereiht, die ihrer so kalt wirkenden Umgebung rot-gelbes Leben verleihen. Von Aigner nummeriert und mit Gouache, Aquarellfarben und Bleistift zu Papier gebracht, wirken die Bildnisse mitunter realer als jedes fotografische Stillleben wasserbeträufelter Früchte.

Wer vom bewegten Leben Aigners weiß, von seinen Jahren in Gefangenschaft, dem wird schnell klar, welche Bedeutung Äpfel für ihn gehabt haben müssen. Zwar war der Pfarrer schon immer ein Obstliebhaber und hatte bereits einen eigenen Obstverein gegründet, jedoch erscheint es beim Betrachten der Bilder fast schon so, als habe er sich bei der Frucht bedanken wollen, dass sie ihm auch in den bedrückendsten Jahren seines Lebens einen gewissen Halt gab.

Wer sich dieser Tage zusätzlich im Nachtleben Kassels bewegt, trifft womöglich früher oder später auf eine weitere Spur des „Apfelpfarrers“. Hinter dem Kulturbahnhof und einigen backsteinernen Lagerhallen wurde anlässlich der Documenta 13 ein stillgelegter Bahnsteig zu einer Open-Air-Tanzfläche umfunktioniert und auf den Namen „Base(13)“ getauft. Auf dem Weg dorthin wird zwischen den Fassaden der Hallen die anfangs ferne Musik Schritt für Schritt immer lauter. Angekommen, führt eine hölzerne Treppe auf den Bahnsteig. Oben drängt sich im Vergleich zum Fridericianum ein eher junges Publikum um Liegestühle, Bars und DJ-Pult. Während die einen zu elektronischer Musik tanzen, sitzen andere in Grüppchen beisammen, mit Blick auf das vom Berg herabschauende Wahrzeichen Kassels, den Herkules. Ein sanfter Wind zieht aus seiner Richtung durch das stählerne Gebälk der Konstruktion, das zusätzlich durch Scheinwerfer in Neonlicht getaucht wird. Hinter den aus hellem Holz gebauten Tresen der „Base(13)“ stößt das Auge des Durstigen auf ein für eine solche Veranstaltung eher ungewöhnliches Getränk: Zwischen Bier und Hochprozentigem stehen dort Flaschen gefüllt mit Saft, gewonnen aus Korbiniansäpfeln.

Documenta 13

Ausstellungstage: 9. Juni – 16. September 2012

d13.Documenta.de

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