Der Beginn einer langen Fahrt

Ulrike Almut Sandigs erzählt in ihrem Prosadebüt „Flamingos“ traurige Geschichten aus einer schiefen Welt

Flamingos stehen in Gruppen. Sie brennen nicht, obwohl die Etymologie ihres Namens der Flamme nahe ist. Sie erwecken den Anschein, als seien sie nicht da, obwohl sie unter uns stehen. Überdenkt man den Inhalt dieser Aussagen, die der Klappentext des ersten Prosa-Bandes der Leonce-und-Lena-Preisträgerin Ulrike Almut Sandig dem Leser präsentiert, vor dem Hintergrund der im Erzählband versammelten Geschichten, dann beginnt man zu begreifen, warum der exotische Vogel den Titel des Buches ziert. Nicht der Rabe als düsteres nordisches Omen einer alten Mythologie ist das Unglückssymbol, sondern das rosagefiederte, flugfähige Landwirbeltier, das auf einem Bein im Wasser stehen kann. Sein Scheinbares, seine latent unecht wirkende Erscheinung, sind nur Oberfläche. Sie sind sehr wohl verletzbar und lebendig. Sie sind anwesend als exotische Ausnahme, die die meisten nur aus zoologischen Gärten kennen.

Ein solcher Garten ist der Erzählband von Frau Sandig. Die elf bei Schöffling & Co. erschienen Geschichten erzählen von Personen, die da sind, aber immer Gefahr laufen übersehen zu werden und zu verschwinden. Sie sind verletzt und brennen – innerlich. Der Grad ihrer Zerstörung prägt ihre Geschichten, die sich immer nah am völligen Zusammenbruch bewegen. Vieles ist in Schräglage gekommen und droht zu kippen. Überhaupt bildet das Motiv des Schiefen eine Konstante aller Geschichten. Da gibt es den schiefen Kai Arno, der seinen Zwillingsbruder im eigenen Leib trägt und zwei Stimmen hat. In der Geschichte Vatertod ist es der schiefe, alte und kranke Vater, dem seine verstorbene Frau fehlt. Dann gibt es noch die blinde Cellistin Anja mit dem schiefen Blick und die schief stehenden alten Menschen mit Stock.

Auffallend ist, dass Sandig sehr junge oder sehr alte Figuren zu den Protagonisten ihrer Geschichten macht. Zwischen den Extremen von Kindheit, Leben, Alter und Tod taumeln die Geschichten hin und her. Zumeist enden sie wie das Leben. Eine weitere Konstante in der Leitmotivik ist die tote Mutter; egal ob sie physisch oder psychisch abwesend ist. Immer treibt sie in den Geschichten ihr Unwesen, zeugt vom Verlust des Geborgenseins. Die hilflosen Väter, die in den Geschichten übrig sind, sind für die dazwischenstehenden zu früh erwachten Kinder dann auch keine Hilfe mehr. Viel Einsamkeit und Krankheit geistern durch die traurigen Geschichten, in der alle ihr Kreuz zu tragen haben. Da gibt es die kleine Migrantentochter Irina, deren Mutter irgendwo am Schwarzen Meer lebt. Den Klinikaufenthalt ihrer großen und magersüchtigen Schwester Katja missversteht sie als Besuch bei der fernen Mutter, an dem sie nicht teilhaben durfte. Die Geschichte vom verwahrlosten Thomas zeigt, wie sich ein hilfloser Junge aufgrund fehlender familiärer Strukturen eine Parallelwelt erschafft und an der Realität scheitert. Besonders schmerzlich ist die Geschichte des kleinen Michi, der einen Kinderreim sprechend seiner Mutter hinterherläuft, sie jedoch nicht einholen kann. Viel tötendes Schweigen, Verletzung und Verlust bestimmt die dargestellten Beziehungen. Unerreichbarkeit dessen, was die Not wenden würde, ist trauriges Integral aller Konflikte. Erlösung scheint nur der Tod zu bringen.

Und doch tönt aus den schwarz-romantischen Kindheitserinnerungen, aus der Ödnis, der Melancholie und der Trauer der stumme Schrei derer, die geliebt werden wollen, die trotzdem da sind, obwohl die Welt, in der sie leben, nicht viel für sie übrig hat. Jedoch entwickelt sich aufgrund der Gefahr des Misslingens der Abwehrmechanismus des Traums, der Ausweg in den Bereich der idealen Flucht, um der Zeitschleife zu entkommen. Die Enge der Heimat wird mitunter durch die exotischen Wünsche – auch hier ist der Flamingo symbolträchtig – eines Weitweg gebrochen, die immer wieder von den Begrenzungen des Jetzt negiert werden. Das liest sich wie die Genese eines Künstlertums, das als Fluchtpunkt traumatischer Enttäuschung immer auch Gefahr läuft, vor den Bedingungen des Realität zu scheitern.

„Bald würde ich meine Fahrt erst richtig anfangen“, heißt es am Ende der letzten Geschichte. Was in dieser Geschichte noch fernes Hoffen ist, vollzieht dieser Geschichtenband bereits. Wenn dem Leser aus der weichen Melodie der Zeilen auch wenig Erbauliches entgegenschauert, so ergeben die Ausschnitte ein Gesamtbild des Schmerzes, das seine Stärke aus dem verschlungen-träumerischen Grenzgang bezieht, der sich verborgen entwickelt. Ulrike Almut Sandig zeigt mit ihren schmerzlich verspielten und konsistent komponierten Geschichten, was ohnehin schon feststand: Auch das Geschichtenschreiben liegt ihr.

Ulrike Almut Sandig: Flamingos

Schöffling & Co.

Frankfurt/M. 2012

176 Seiten – 17,90 Euro


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