„Oh welche Wonne, welcher Schmerz!“

Die vierte Auflage der Meyerschen Stallgespräche diskutiert Fragen diesseits des Lustprinzips

Clemens Meyer (Foto: R.Arnold/Centraltheater)

Nun also die Skala! Nachdem die Meyerschen Stallgespräche bereits auf der großen Bühne des Centraltheaters und auf dem Gelände des Weißen Hauses stattgefunden haben, wanderte das Programm in die, zwischenzeitlich für den allgemeinen Theaterbetrieb geschlossene Nebenspielstätte. Das Motto der vierten Auflage: „1. Porno, 2. Liebe, 3. Trauer“. Eine interessante Trias für einen Abend, an dem der Zugang für Personen unter 18 Jahren nicht gestattet ist. Voll ist es trotzdem. Oder gerade deswegen?

Auf einer bestuhlten Bühne, die nicht allen Zuschauer Platz bot, sah man den üblichen Schreibtisch. Links von diesem saß Enrico Meyer und sorgte mittels Laptop und Mischpult für die musikalische Untermalung des Abend, während Enrico Schmidt am linken Rand der Bühne an einem kleinformatigen Gemälde arbeitet, auf dem ein Bett, dessen massive Bettwäsche ungeordnet auflag, zu sehen war. Genauer wurde auf das Bild an diesem Abend nicht eingegangen. Überhaupt war es ein reiner Redeabend, der die üblichen Showeinlagen vermied, dafür aber den Raum für intensive Gespräche öffnete.

Zu Beginn betritt der Literat aus dem Osten der Stadt mit einem Glas Cognac in der Hand die Bühne. Nachdem er sich gesetzt hat, holt er eine Pfeife aus der Innentasche seiner Jacke und stopft diese bedächtig. Anzünden wird er sie nicht! Rauchen verboten! Clemens Meyer greift nach dem ersten der drei Bücher, die vor ihm liegen und beginnt zu lesen: Sigmund Freud – Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens – 1. Über einen besondere Typus der Objektwahl beim Manne.

Der Zuschauer hört vom Verstoß gegen das neunte Gebot, die Neigung zum Begehren sexuell anrüchiger Frauen, von der Eifersucht, durch die die Leidenschaft erst ihre Höhe erreicht, und vom Retterinstinkt. Schade ist, dass der Vortrag nach der vierten Bedingung abbricht und damit vermeidet, den Freudschen Ursprung der Objektwahl zu nennen: nämlich die Fixierung der infantilen Zärtlichkeit an die Mutter. Es wäre sicherlich auch spannend gewesen, zu sehen, wie dieser Ansatz in der männerdominierten Runde diskutiert worden wäre.

Der zweite vorgetragene Text, ist ein Auszug aus de Sades Die 120 Tage von Sodom. Passagen voll mit inzestuösen und masochistischen Szenen prägen den Vortrag. Das Essen von Kot, Vergewaltigungen, sogar das Prostituieren minderjähriger Familienangehöriger wird im Tonfall biblischer Erzählungen beschrieben. Abgerundet wird die Lesung mit Goethes Gedicht Willkommen und Abschied. Skurril aber treffend. Meyer führt mit seinem Lesevortag literarhistorisch in die Themen des Abends ein.

Für die fleischgewordene Seite der Romantik, ist Maik Franeck eingeladen worden. Der studierte BWLer ist Pornodarsteller, -regisseur und Produzent. Man unterhält sich angeregt über den Drehalltag, über die Lage der Pornobranche, über Fluch und Segen des Internets und dessen Entwicklungsbeschleunigung durch die Pornografie. Auch Fragen zur Lage der pornografisierten Gesellschaft werden am Rande kurz erörtert. Im Hintergrund laufen Szenen aus dem 1972 veröffentlichen Pornostreifen Deep Throat mit Linda Lovelace und Harry Reems. Der Titel des Films ist Programm. Die Szenen belästigen jedoch das Gespräch nicht im Geringsten, begleiten und ergänzen es themengebunden. Zwischendurch versucht Enrico Meyer, ein Bier zu verlosen. Die Antwort auf die gestellte Insiderfrage hat keiner der Zuschauer parat. Und doch ist die Lösung sehr erheiternd. Wer wusste schon, dass das Lied aus der Muppet Show („Mah Na Mah Na“ von Piero Umiliani) ursprünglich in einem italienischen Mondo-Film über die Sexualität in Schweden erklang.

Nachdem das Gespräch immer mehr in Richtung Exkremente tendiert und Enrico Schmidt bemerkt, dass es doch auch noch um andere Themen gehen sollte, kündigt der sich selbst als verwirrten Romantiker bezeichnende Moderator eine Bewegung vom Körper zum Geist an. Der Gast für die Gefilde des Geistes ist Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig. Man unterhält sich über die neuronalen Vorgänge des Verliebtseins, über den Stoff Oxytocin, der für das monogame Verhalten der Lebewesen verantwortlich ist und diskutiert die Frage, ob Liebe lediglich ein neuronal-chemisches Feuerwerk sei und damit eine Illusion, die unserem romantischen Ideal eine Absage erteilt.

Auch der Aspekt der Trauer kommt in diesem Zusammenhang kurz zur Sprache. Als Teil des gesunden Erlebens des Menschen läuft diese immer Gefahr in die Depression abzugleiten und pathologisch zu werden. Damit bewegt sich Prof. Hegerl auf dem Gebiet seines Forschungsschwerpunkts und man merkt, wie innig und kompetent er die Phänomene der depressiven Erkrankungen beleuchten kann.

Zum Schluss gibt es Seifenblasen. Die Publikumsfrage, warum keine Frauen als Gesprächspartnerin anwesend waren, beantwortet der Entertainer mit einem mangelnden Interesse derer, die gefragt wurden. Weiter führt er wortgewaltig aus, dass der Abend versucht hat, jenseits von männlich und weiblich die Untiefen des menschlichen Liebeslebens auszuloten. „Am Ende verschmilzt alles, wenn die Sonne implodiert!“

Erneut gelingt dem Format ein interessanter Wechsel, der sich nicht nur örtlich vollzieht. Wesentlich unspektakulärer richtet sich der Fokus auf das Gespräch. Der Gehalt wächst mit zunehmender Dauer und der Zuschauer kann sich am Ende ein Bild von den Gästen machen, weil sie lange genug Zeit haben zu reden. Von welchem Format kann man das heute noch behaupten? Zu Zeiten einer öffentlichen Gesprächskultur, in der dem Sprecher nach spätestens fünf Minuten das Wort streitig gemacht wird, sind solche Unterhaltungen ein wahrer Segen.

Stallgespräche #4

Mit: Clemens Meyer, Prof. Dr. Ulrich Hegerl (Chefarzt der Psychiatrie Uni Leipzig) und Maik Franeck (Erotikdarsteller und -regisseur)

Premiere: 12. Oktober 2012


Ein Kommentar anzeigen

  1. ja, das war ein sehr guter abend, die gäste waren interessant, der meyer wie immer ein original mit entertainmentqualitäten und diesmal ganz nah beim großen alexander kluge!

    schön dass der leipzig almanach das format so treu aber auch kritisch begleitet. mehr von beidem!!!

    grüße pornkotti

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