Großstadt in Graustufen

„Oh Boy“ von Jan Ole Gerster begleitet einen melancholischen jungen Mann auf Berlin-Odyssee

Tom Schilling als Niko: ein einsamer Wolf in der Großstadt (Fotos: Verleih)

Niko ist Berliner. Besser gesagt, Niko wohnt in Berlin. Denn identifizieren kann er sich nicht mit dem, was seinen Großstadtalltag ausmacht ― erst recht nicht mit den Großstadtmenschen. Niko ist immer irgendwie fehl am Platz. Auch an diesem einen Tag, von dem Oh Boy erzählt und der so sein könnte, wie jeder andere Tag auch.

Das Spielfilmdebüt von Jan Ole Gerster mit seinem Hauptdarsteller Tom Schilling taucht Berlin in nostalgische Schwarz-Weiß-Bilder und untermalt diese mit sanften Jazzklängen. Es sind schwermütige Bilder dieser Großstadt, die mehr ist als bloße Filmkulisse und trotz hektischer Menschenmassen einsam, schwermütig und lethargisch daherkommt. Diesen Bildern entspricht Nikos Leben. Er hat sein Studium abgebrochen, sich von seiner Freundin getrennt, ist pleite und will einfach nur allein sein. Doch das scheint unmöglich zu sein im Berlin des 21. Jahrhunderts. Mehr vom Zufall getrieben als freiwillig fällt Niko von einer Begegnung in die andere. Er trifft auf Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und wunderbar überstilisiert sämtlichen Klischees gerecht werden, die unsere Zeit zu bieten hat und die in einer Metropole wie Berlin vereint werden.

„Tatort“-Darstellerin Friederike Kempter spielt in „Oh Boy“ Nikos Ex-Klassenkameradin Julika

Da ist der liebe Herr Psychiater, der Niko emotionale Unausgeglichenheit diagnostiziert, ihm jedes Wort im Mund umdreht und versucht, nach tiefen Wunden in seiner Vergangenheit zu graben. Oder Nikos Vater, der nur Sohnemanns Karriere im Kopf hat und ihn mit seinem persönlichen Assistenten ― einem Lackaffen par excellence ― vergleicht und Niko zu allem Überfluss den Geldhahn zu dreht. Auch macht Niko mit seinem von Eheproblemen geplagten Nachbarn Bekanntschaft, der meint, sich ausgerechnet bei ihm ausheulen zu müssen. Dabei möchte er doch nur nachdenken, sein Leben ordnen, seine Ruhe haben und vor allem eines: eine Tasse Kaffee. Aber das soll ihm an diesem Tag scheinbar nicht vergönnt sein. Mal hat er nicht genug Geld, ein anderes Mal ist die Kaffeekanne leer, die Kaffeemaschine schon gereinigt oder der Kaffeeautomat ist außer Betrieb.

Die Komik des Films wird dabei nicht durch platte Worte, sondern durch tiefgründige Bilder transportiert. Der Kamera gelingt es, Nikos scheiternde Versuche, einen Kaffee zu ergattern, auf poetische Weise einzufangen. Die metaphorisch aufgeladenen Schwarz-Weiß-Bilder erinnern dabei ein wenig an Jim Jarmuschs Filmcollage Coffee and Cigarettes. Es sind einfache Situationen, denen der Zuschauer beiwohnt. Doch der Film schafft es durch seine Bildsprache, verbunden mit minimalistischem und pointiertem Sprachgebrauch, diese Momente des Alltäglichen besonders erscheinen zu lassen. Jede der Szenen könnte auch für sich stehen, ein eigener Kurzfilm sein. Doch fügen sie sich genauso gut zusammen zur Geschichte eines Tages aus der Sicht von Eigenbrötler Niko, der getragen wird von Zigaretten und dem Mangel an Kaffee.

Die Ahnung von etwas Neuem: In einer Berliner Bar macht Niko eine besondere Begegnung

Wenn Niko seinen Mitmenschen begegnet und ihnen, von den Situationen überrumpelt, völlig sprachlos gegenüber steht, möchte man ihm manchmal einfach beipflichtend sagen: „Genau so ist es! Das ist Großstadtleben im Jahr 2012.“ Zum Beispiel dann, wenn Niko ― sich sichtlich unwohl fühlend ― am Tresen eines Cafés steht, in dem es einfach keinen normalen Kaffee mehr zu geben scheint. Stattdessen schreckt ihn die Bedienung mit exotischen Bezeichnungen wie „Columbia Morning“, wahlweise gepantscht mit Sojamilch, ab.

Ähnlich geht es ihm auf der Party nach einer Off-Theater-Premiere, deren Macher nicht besser hätten karikiert werden können: Das Team ist unter sich und verliert sich in pseudo-intellektuellem Gelaber über Kunst und Individualität. Ihr Narzissmus kennt keine Grenzen ― ebenso wenig wie die persönlichen Angriffe auf diejenigen, die das Stück kritisieren. Mittendrin ist Julika (Friederike Kempter), Nikos ehemalige Klassenkameradin. Sie selbst bezeichnet sich als „fettes Mädchen von damals“ und kommt nun mit schriller Stimme und der Statur einer Magersüchtigen daher, um die Komplexe und Beleidigungen ihrer Kindheit in Wichtigtuerei zu ertränken.

Neben all der Situationskomik ist Oh Boy gleichzeitig endlos tragisch. Denn hinter allem Witz offenbart sich die Verstrickung eines jungen Mannes, der nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll. Eines Mannes, der sich falsch aufgehoben fühlt in der Zeit, in der er lebt und der die Menschen als bloße Fassaden entlarvt, so grau wie die Wände der Berliner Häuser. Er ist ein einsamer Wolf in der Großstadt, der durch eine besondere Begegnung in einer Bar tief in der Berliner Nacht vielleicht einen neuen Lebensabschnitt beginnen wird. Doch wer weiß schon, was der nächste Tag bringt …

Oh Boy

Deutschland 2012, 88 Minuten

Regie: Jan Ole Gerster; : Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Justus von Dohnányi, Michael Gwisdek, Katharina Schüttler, Arnd Klawitter, Martin Brambach, Andreas Schröders

Kinostart: 1. November


Ein Kommentar anzeigen

  1. Hingewiesen sei auch auf die unfassbare Pointiertheit der Dialoge. Da sitzt jede Zeile!

    Außerdem: Endlich mal wieder ein Film in dem sauber und verständlich gesprochen wird und kein unnötiges Pseudoauthentizitätsgenuschel. Großartig!

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