Oskaras Koršunovas verarbeitet Shakespeares „Der Sturm“ in seiner Inszenierung „Miranda“ bei der Euro-Scene
„Ein Sozialdrama über den nicht endenden und absurden Kampf um Macht und den eines Individuums (…). Dieses Drama währt ewig.“ So äußert sich der litauische Regisseur Oskaras Koršunovas bezüglich einer Interpretation von Shakespeares Der Sturm mit der er sich in seiner Inszenierung Miranda auseinandersetzt. Dem Abend ist dabei weniger das Sozialdrama als den persönlichen Kampf um das nicht enden wollende Drama anzumerken.
Um Individuen geht es hier, die – gefangen in ihrer eigenen Welt – versuchen, auszubrechen, sich Freiräume zu schaffen. Genauer um einen Vater und seine behinderte Tochter, die in einem mit Büchern vollgestellten Wohnzimmer einen Weg aus ihrer Isolation durch die Literatur finden wollen – und dies zumindest für kurze Zeit auch tun.
Ein normaler Tag, der Vater hört Radio, liest, füttert die Tochter, führen ihr schon lange andauerndes Schachspiel fort, als Miranda dann offensichtlich nicht zum ersten Mal darum bittet, Shakespeares Der Sturm erzählt zu bekommen. Bald vermischen und überschneiden sich diese zwei Ebenen, der Vater schlüpft in die Rollen des Prospero, Caliban, Antonio und des Ferdinand. Dabei bleibt streckenweise zunächst unklar, auf welcher Ebene man sich gerade befindet, bis dann auch Miranda ihre sprachlichen und körperlichen Grenzen komplett überwindet und auch sie in ihrer Rolle als Shakespeares Miranda (später noch als Luftgeist Ariel) aufgeht.
Dass diese Überlagerung nicht verwirrend oder träge wird, ist sowohl dem Bühnenbild (Dainius Liskevicius) als auch der Qualität der Schauspieler zu verdanken. Das Setting – zunächst als realistisches daherkommend – wird immer wieder aufgebrochen, surreale Momente entstehen und Gegenstände werden, ganz im Sinne des Objekttheaters, auf einfachste aber wirkungsvolle Weise ins Spiel einbezogen. Die Schauspieler Airida Gintautaite und Povilas Budrys überzeugen durch ihre unglaubliche Wandlungsfähigkeit und Virtuosität. Die Figuren sind klar gezeichnet und so lebt und erzählt sich dieser Theaterabend besonders durch seine Charaktere.
Schade, dass die inhaltliche Verständlichkeit dabei etwas auf der Strecke bleibt – sicherlich in diesem Falle auch bedingt durch die eher dürftige Übertitelung. Da wurden Textpassagen weggelassen, zu früh oder zu spät gefahren, dem Zuschauer zu wenig Zeit zum Lesen gegeben. Dies deutet erneut darauf hin, dass der Frage nach der Übersetzbarkeit im Rahmen internationaler Festivals wie der euro-scene eine größere Bedeutung zugeschrieben werden sollte, auch wenn das Problem bei dieser Inszenierung nicht zu weit ins Gewicht fällt.
So sind zwar einige Passagen des Abends inhaltlich nur schwer nachzuvollziehen, dies wird jedoch durch die Energie, die auf der Bühne freigesetzt wird, wettgemacht. Hier zahlt es sich aus, dass Koršunovas – dieses Jahr bereits zum vierten Mal als Gast in Leipzig – ganz auf die Fähigkeiten und körperliche Präsenz seiner Schauspieler vertraut. Denn auch ohne immer einer klaren Dramaturgie folgen zu können oder Shakespeares Der Sturm zu kennen, werden die Fragen des Abends deutlich: Auf welchen Inseln ist der Mensch gefangen, wo sind seine Grenzen? Können diese rein körperlich, rein sprachlich bedingt sein, wie im Falle Mirandas, oder werden sie einem von einem System von außen aufgedrückt, das einengt? Gibt es Möglichkeiten, von diesen Inseln zu fliehen und wenn ja, welche? Kann Literatur eine solche Möglichkeit sein? Gerne wäre man dazu geneigt, die Frage zu bejahen, die Inszenierung jedoch legt etwas anderes nahe: Miranda und ihr Vater schaffen es für eine kurze Zeit, sich von ihrem Alltag, ihren Ritualen zu befreien, eine anhaltende Flucht aus der Enge ist jedoch nicht möglich. Man merkt, auch am nächsten Tag werden die beiden sich wieder die selbe Geschichte erzählen, sie werden für einen kurzen Augenblick flüchten müssen, aber ebenso wieder zurückkehren. Dieses Drama währt ewig.
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