Hier spricht der Diskurs

Chór kobiet aus Warschau liefert bei der Euro-Scene mit dem Sprech-Chor-Stück „Tu mówi chór“ eine technisch beeindruckende, jedoch oft hölzerne Inszenierung ab

Fotos: Antonio Galdamez Muñoz, Witold Meysztowicz

„Sprechen wir mal darüber!“, schleudert ein 25-köpfiger Frauenchor dem Publikum entgegen. Dieser Satz formuliert das Leitmotiv der Inszenierung. Tu mówi chór (zu deutsch: Hier spricht der Chor) von Marta Górnicka ist eine knapp einstündige Textcollage über zeitgenössische patriarchale Frauenbilder, vorgetragen vorrangig von Laienschauspielerinnen verschiedenen Alters. Diese flüstern, singen, schreien oder quietschen sich durch ein vielfältiges Textpotpourri, von altbackenen Hausfrauenklischees in Kuchenrezepten bis hin zur philosophisch-feministischen Kritik Simone de Bouvoirs an der Unsichtbarkeit weiblicher Reproduktionsarbeit. Mit welcher Kraft und Konzentration diese ganz unterschiedlichen Frauen in Tu mówi chór als Ensemble agieren, ist sehr beeindruckend anzuschauen. Sie bespielen derart souverän und stimmgewaltig den Raum, dass in vielen Momenten die als Chorleiterin fungierende Regisseurin, die mit dem Rücken zum Publikum steht und dirigiert, überflüssig zu sein scheint. Die meist als ganze Gruppe wie aus einem Mund, dann aber auch mehrstimmig oder solistisch agierenden Stimmen sind elegant ineinander verwoben und zugleich sehr exakt.

Das stimmlich erzeugte Material sorgt für spannende Momente, etwa wenn sich zwischen gleichförmig und abgehackt aufgesagte Verhaltensnormen für Frauen plötzlich hohe, sich überschlagende Töne mischen, als wollten diese aus dem starren Gerüst ausreißen; oder als würden sie zusammenbrechen unter der Last der Doktrin, die vorgibt, wie man eine richtige Frau zu sein hat. Auch für die postfordistische Disziplinierungsmaschinerie, welche dem Subjekt immer weitere Anforderungen der Selbstoptimierung aufhalst, wurde ein ausdrucksstarkes Stimm-Bild gefunden: Die Imperative „Sei sexy! Sei du selbst! Sei eine Frau!“ werden mehrmals hintereinander in immer höherer Tonlage wiederholt. Dieser interessante Verweisraum zwischen stimmlicher Form und Text-Inhalt eröffnet sich in anderen Sprach-Bildern der Inszenierung leider weniger deutlich. Die Stimm- und Bewegungschoreographien wirken dann eher zufällig platziert, etwa wenn zum de Bouvoir-Zitat über die Frage nach der Bezahlung von Hausarbeit die Formation eines offenen Dreiecks eingenommen wird.

Die Regisseurin betonte in Interviews, ihr gehe es um die Wiederaneignung des Chores als Instanz auf dem Theater, wie er vor allem aus der antiken Theatertradition bekannt ist. Mit diesem Interesse ist Marta Górnicka im zeitgenössischen, post-dramatischen Sprechtheater nicht allein, man denke etwa an Volker Löschs Arbeitslosenchöre oder René Polleschs Stück Ein Chor irrt sich gewaltig. Neben diesem Versuch der Aktualisierung einer theaterhistorischen Tradition ist der thematische Überbau des Stückes in der poststrukturalistischen und postfeministisch-akademischen Theoriebildung auszumachen. Diese räumt der Sprache eine Vorrangstellung bei der Konstitution, aber auch bei der Unterwanderung von Geschlechterrollen und von Kultur überhaupt ein. In Tu mówi chór wird diese These konsequent in theatrales Geschehen übersetzt. Nicht nur wird permanent gesprochen und die Aufführung des Textes in den Mittelpunkt gestellt. Sondern es wird auch der Akt des Sprechens selbst reflektiert, wenn es etwa heißt: „Was soll ich noch sprechen?“ oder: „Ich spreche zu meinem Körper“. Angelehnt an die poststrukturalistische Annahme, dass es nichts jenseits der Sprache gäbe, will Tu mówi chór eine Kampfansage sein: die Suche nach einer weiblichen Stimme in einer durch und durch patriarchalen Sprache, eine Anklage gegen die Sprache mit sprachlichen Mitteln.

Leider verschiebt sich im Verlauf des Stückes unfreiwillig der Fokus weg vom feministischen Impetus hin zu der Aussage, dass sowieso alles nur Diskurs ist. Dies liegt an der Vielzahl der Themen, die zwar alle berechtigterweise einer feministische Kritik unterzogen werden müssten, aber in Tu mówi chór zusammenhangslos aneinandergeklatscht werden und somit einer wirklichen Auseinandersetzung entbehren. So werden nacheinander mal eben kurz ein paar Textbrocken zu Prostitution, dem Geschlechterverhältnis im Märchen, dem Einfluss der Kirche, Lohnarbeit, heteronormativer Liebe, Körper und Revolution rausgehauen – um nur einige zu nennen.

Die Inszenierung kennt nur wenig leise Töne. Sie wird getrieben von einer Wut gegen den Text. Diese Aggression, die sich sprachkünstlerisch oftmals im Zerhacken einzelner Wörter oder Sätze in ihre Einzelteile äußert, macht auch nicht Halt vor den philosophischen Texten von Foucault oder de Bouvoir, auch wenn diese das Geschlechterverhältnis kritisch zu analysieren anstreben. Aus poststrukturalistischer Perspektive ist dieser gleichmacherische Umgang konsequent. Alles ist Diskurs, Tomb Raider und de Bouvoir gleichermaßen. Die Fragen nach den qualitativen Unterschieden und nach der Trennung von richtig und falsch erübrigen sich.

Die Amalgamierung zu einer perfekten und glatten Textfläche hat etwas Kaltes und Zynisches. Es gibt in der Inszenierung kaum einen Lichtblick, kaum einen Augenblick des Ausruhens, kaum Ambivalenzen, kaum Herzlichkeit, sondern nur das Vorpreschen im und gegen den Diskurs. Seltene Ausnahmen sind die Momente, in denen einzelne Spielerinnen aus der Einheitlichkeit des Chores stimmlich und körperlich hervortreten. Besonders eindrücklich ist eine Szene, in der eine der älteren Frauen mit außergewöhnlich tiefer Stimme und gelassener Selbstironie auf (männlichen) Rockstar macht, um kurz darauf mit den anderen Frauen zusammen einen Gospel anzustimmen. In solchen Momenten wird klar: Es ist nicht alles Diskurs. Es gibt die individuelle Physis, die in der Leiblichkeit wurzelnde, individuelle Erfahrung, die zwar niemals jenseits des Gesellschaftlichen steht, aber doch auch nicht völlig darin aufgeht. Diese Momente erzählen mehr über Weiblichkeit im 21. Jahrhundert als die runtergeratterten Textkaskaden. Die verschiedenen Gesichter und Körperhaltungen lassen viele Geschichten davon erahnen, was es heute heißt, eine Frau zu sein. Sehr eindrucksvoll ist deshalb auch das Eingangsbild, wenn die Spielerinnen als Gruppe angeordnet mehrere Minuten lang stumm in den Zuschauerraum blicken. Leider bekommen nicht alle Frauen die Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen und von sich zu erzählen und fallen erst beim Applaus so richtig auf. Während des Stücks fungieren sie – böse formuliert – als Kanonenfutter für den Diskurs.

Insgesamt mutet es etwas absurd an, dass das Beklagen über die angebliche Allmacht des sprachlichen Diskurses allein mit sprachlichen Mitteln geschieht. Und das obendrein an einem Ort, dem eigentlich die Unterbrechung von Alltagsdiskursen und das Ins-Spiel-Bringen des Körpers und der Sinnlichkeit zu eigen ist: dem Theater.

www.euro-scene.de

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