Dorf ohne Heimkehr

In Marie Ndiayes Roman „Ein Tag zu lang“ verliert ein Lehrer den Boden unter den Füßen

Marie Ndiayes erster Roman erschien, als die Autorin noch zarte 17 Jahre alt war. Der Verlag Editions de minuit, der unter anderem Samuel Beckett und Georges Bataille als Autoren unter Vertrag hatte, ist ihr bis heute treu. Im deutschsprachigen Raum hat der Suhrkamp Verlag Ndiayes Büchern ein Zuhause gegeben und mit Claudia Kalscheuer eine kongeniale Übersetzerin gefunden. Aus dem immer noch reichhaltigen Fundus noch nicht übersetzter Bücher von Marie Ndiaye ist nun Ein Tag zu lang erschienen, welches bereits seit 1994 unter dem Titel Un temps de saison auf Französisch vorliegt.

Ausnahmsweise spielt in diesem Buch ein Mann die Hauptrolle, was in den Büchern NDiayes eher ungewöhnlich ist. Herman ist Lehrer an einer Pariser Schule und irrt zu Beginn des Romans durch das Dorf, in dem er mit seinem Kind und seiner Frau den Sommer verbracht hat. In diesem Sommer beschließt Herman, einen Tag länger im Dorf zu bleiben, anstatt wie üblich am letzten Augusttag abzureisen. Diese nicht näher begründete Entscheidung hat unerwartete Auswirkungen. Hermans Familie geht an diesem niemals vorgesehenen Urlaubstag gänzlich verloren. Ob er sie jemals wiederfinden wird, bleibt ungewiss. Die einzige Chance auf ein Wiedersehen besteht darin, sich den eigenwilligen Regeln der Gemeinschaft anzupassen und sich dem Psychoterror der Dorfobersten auszusetzen.

Was für ein unfassbar rätselhaftes und beunruhigendes Buch. Auf jeder Seite dieses kurzen Textes merkt man, wie stark Ndiaye von Kafka beeinflusst wurde, so dunkel, bedrohlich und frei von rationaler Logik ist das, was sich im Lauf der Handlung abspielt. Das Figurenensemble, das in den Sommerferien Pariser Touristen die unscheinbare Dorfidylle vorgaukelt, um den Rest des Jahres dank touristischer Einnahmen den Fiskus instand zu halten, ist dabei so doppelbödig und undurchsichtig, dass man erst recht nicht weiß, wem man als Leser trauen soll. Aber dann bitte auch kein falches Mitleid mit Herman! Es wäre doch ein Leichtes gewesen, zur richtigen Zeit abzufahren und das Großstädterleben wieder aufzunehmen.

Bei aller kafkaesken Rätselhaftigkeit lässt sich Ein Tag zu lang vielleicht doch als eine Art Statement lesen. Wer in der Lage ist, klare Entscheidungen zu fällen (Wann ist es Zeit, einen Ort zu verlassen? Wo möchte ich leben?), der kann unbescholten leben. Wer aber zögerlich ist, der gerät ins Hintertreffen und in die Knochenmühle eines Systems, in dem er selbst jegliche Übersicht verloren hat. Wer noch weiter gehen möchte und den Text hinsichtlich seiner reinen Aussagemöglichkeit noch radikaler auslegt, der wird in diesem Roman eine klare Bejahung urbanen Lebens finden, das sich mit vordergründig harmonischem Dorfleben nicht vereinbaren oder gar vermischen lässt. Somit sei auch gewarnt vor dem Aufeinanderprallen der Großstadtanonymität und der Jeder-kennt-jeden-Mentalität, die in den Käffern – deren angrenzende Metropole nur zu oft als uneingestandener Sehnsuchtsort stilisiert wird – an der Tagesordnung ist.

Wer als Leser immer auf der Suche nach Antworten ist, der wird auch an diesem Roman der französischen Göttin der Dämmerung fast schon verzweifeln. Wer sich bevorzugt solch klaustrophobischen und trostlosen Szenarien aussetzt, um seine eigenen Grenzen abzutasten, der kann kaum etwas geeigneteres als Lektüre finden. Am Ende landet man mit Herman sowieso an einem Ort, von dem man immer dachte, dass es ihn gar nicht gäbe: Mitten im Nirgendwo. Wo sonst außer bei großer Literatur soll einem so etwas noch passieren?

Marie Ndiaye: Ein Tag zu lang

aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer

Suhrkamp

Berlin 2012

159 S. – 15,95 Euro


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