Sein Faust

Sebastian Hartmanns „Mein Faust“: In seiner letzten Inszenierung als Intendant am Leipziger Centraltheater zeigt der Regisseur eindrucksvoll, was auf einer Bühne bleibt, wenn die Sprache dezimiert wird

Benjamin Lillie, Matthias Hummitzsch, Cordelia Wege, Artemis Chalkidou, Heike Makatsch (Fotos: R.Arnold/Centraltheater)

Ein Beginn, metaphorisch wie ein Gedicht: Der schwere rote Vorhang öffnet sich nur halb und zum Vorschein kommt ein Glaskasten, in dem ein Feuerwerk tobt. Ähnlich tobt es auch in den Protagonisten des Stückes. Der Worte beraubt, bricht sich ohnehin Unaussprechliches mit ungeheurer Kraft Bahn.

In starken Bildern inszeniert Hartmann einen Ausschnitt aus dem Negativdispositiv der großen Spanne von Gefühlen, die zu empfinden das Menschsein ausmacht. In unzähligen Szenen der totalen Entblößung von Körpern, aber vor allem auch von Seelenleben geht es um existenzielle Ängste, um Einsamkeit, Aggressionen, Enttäuschung, Begehren, emotionale Verwundung und Verwundbarkeit. Im offenbar auch schmerzhaften Sprachverlust finden sich ungeahnt facettenreiche Ausdrucksformen. Einige Akteure entfalten in der Reduktion auf Mimik und Gestik ihr volles Potential, leisten aber auch stimmlich unheimlich viel. Sie ächzen, krächzen, wimmern, lechzen, keuchen, stöhnen, schreien, jammern, summen.

Besonders stark ist da die Szene, als Cordelia Wege sich mit einer kühlen Selbstverständlichkeit aus ihrer barocken Verhüllung befreit und sich provokant mit großen Mädchenaugen dem Blick des Publikums aussetzt. Oder Sina Martens, die nach eigener Selbstverletzung ihre Befreiung in der Massenbegattung zu finden scheint. Ingolf Müller Beck kastriert sich selbst und wird aberwitzig von Matthias Hummitzsch wieder vernäht. Großen Performance-Charakter weist dann die Szene auf, in der Manolo Bertling zu den Herzkontraktionen ähnelnden Techno-Sounds des nackten Musikers immer und immer wieder Erde, die einen Großteil der Bühne bedeckt, in den Mund stopft. Hier wird der Sprachverlust vom Mittel wieder zum Gegenstand der Betrachtung. Ihm, der sich mit Schweigen selbst kasteit, wird ein überdimensionaler Pappmaché-Kopf Goethes aufgesetzt: Der Altmeister wird zur Sprachlosigkeit verdammt.

Matthias Hummitzsch, Sina Martens, Benjamin Lillie

Wie zumeist bei Hartmann im letzten Akt wird es auch hier wieder albern bis klamaukig. Faust, Gretchen und Mephisto treten als Kasperletheater-Handpuppen auf, in deren großformatigen Köpfen installierte Kameras qualvoll verzogene Schauspielergesichter auf die gepixelte Leinwand übertragen. Da beweist auch Heike Makatsch endlich mal Mut zur Hässlichkeit und gebiert, aus der Gretchen-Puppe geborgen, wild schnaufend den Rest des Ensembles. Als Peter-René Lüdicke, der sich bisher bedeckt gehalten hatte, eine halbe Stunde vor Schluss die Bühne betritt, muss dem Zuschauer förmlich offenbar sein, dass er von nun an auszuharren hat, da Hartmann in seiner letzten Inszenierung in Leipzig einem seiner Lieblinge noch einmal Platz einräumen wird, für die altbekannte alberne Langeweile, beispielsweise bekannt aus Publikumsbeschimpfungen. Und so furzt er minutenlang geräuschvoll in einen metallenen Pott. Das Nichts, das er im Anschluss daraus ins Publikum gießt wirft die Frage auf, ob es gleichsam nur heiße Luft ist, mit der Hartmann den Zuschauer am Ende des Abends entlässt.

Zum Schluss lässt auch Artemis Chalkidou noch die Hüllen fallen und überrascht mit einer beeindruckenden Masturbationsszene, während Hummitzsch am Bühnenrand wohl nichts zu entäußern hat und Benjamin Lillie die Szene mit einer peinlichen Lach-Yoga-Nummer auflöst, in die völlig deplatziert drei offensichtlich behinderte Menschen in Engelskostümen hineinspazieren, um Lillie Trost und Schutz zu spenden. Was Hartmann damit zu sagen versucht, bleibt rätselhaft. Mag es wohl darum gehen, inszenatorisch einen Bruch zu erzeugen – allemal fragwürdig bleibt vor allem die letzte halbe Stunde der Inszenierung.

Für den geneigten Zuschauer dürfte es spannend sein zu beobachten, wie sich „Mein Faust“ widerspenstig simpler Deutung entzieht. Lässt man sich auf diesen Abend ein, wird man den einen oder anderen Denkanstoß und ein ästhetisches Erlebnis erfahren, das nicht zuletzt durch präzise Schauspielerei, ein phänomenales Kostümbild und stark symbolisch aufgeladene Bildkompositionen evoziert wird.

Mein Faust

R: Sebastian Hartmann

Mit: Manolo Bertling, Artemis Chalkidou, Manuel Harder, Matthias Hummitzsch, Janine Kreß, Benjamin Lillie, Heike Makatsch, Sina Martens, Ingolf Müller-Beck, Peter René Lüdicke, Cordelia Wege und Susan Haubner, Nicole Merkel, Egon Voigtsberger

Premiere: 15.November 2012, Centraltheater

Zur Zweitrezension von Sabine Ernst

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