„Ich hatte Hunger“

„Fette Männer im Rock“, die neue Produktion der Werkstattmacher, feiert den Zynismus

Fotos: Thomas Puschmann, fruehbeetgrafik

„Mein Name ist Bishop, das ist mein Name, ich bin nicht von der Kirche.“ Nein, das ist Bishop Hogen wirklich nicht. Er sitzt im Stuhl und erklärt dem Arzt, ja, er habe seine Eltern getötet. Warum er das getan habe? Er hatte eben Hunger.

Lisa Günther vom Regiekollektiv Von & Über inszeniert das Stück Fette Männer im Rock (Nicky Silver), welches in Zusammenarbeit mit dem Werkstattmacher e.V. und dem Lofft am Montag auf der Werkstattbühne Premiere feierte.

Wer noch nicht auf der Werkstattbühne war: Sie ist klein, eine übliche Probenbühne, kein großer Theaterraum. Das Publikum muss etwas rutschen, damit alle Premierengäste reinpassen, und die Darsteller müssen kleinere Schritte machen, um der ersten Reihe keinen Sand ins Gesicht zu fegen. Sand, den gibt es auf der Bühne. Zwei Stühle, ein Miniaturzelt, eine Leinwand, Sand – das war’s. Und es ist mehr als genug.

Mit einer begeisternden Kreativität geht die Regisseurin mit ihrem Material um, setzt die Darsteller witzig und etwas sehr zynisch ins kalte Scheinwerferlicht, arbeitet mit scharfen Dialogen und malerischen Monologen. Aber worum geht es überhaupt in dem Stück des us-amerikanischen Dramatikers Nicky Silver? Bishop ist ein Junge aus einem recht zerrütteten Elternhaus, der Vater Howard betrügt seine Frau, diese straft dafür ihr Kind. Eines Tages stürzen Mutter und Sohn mit ihrem Flugzeug auf einer Insel ab. Dort verharren sie eine lange, lange Zeit. Sie ernähren sich von mitabgestürzten Fluggästen und in ihrer Zweisamkeit vergessen sie ihre Verwandtschaft.

Die Schauspielerin Julia Pohl, welche die Mutter Phyllis spielt, ist besonders hervorzuheben. Mit einer Übermacht von Charisma fällt sie über das Publikum her und erfüllt den Wahnsinn, der sonst zum einfachen Slapstick verkommen würde, mit einer Tiefe, dass mich auf meinem Platz Traurigkeit überkommt. Daraus ergibt sich auch die einzig Kleinigkeit, die ich schade nennen möchte: So fein der Wahnsinn der Mutter erzählt wird, so ungeschlacht wirkt daneben der Sohn. So unergründbar erscheinen seine Motive, da er sie dem Publikum nur teilweise offenlegt. Ausgerechnet sein Irrsinn lässt viele Fragen offen. Lücken in der Erzählung machen sich normalerweise gut, doch diese Geschichte ist nicht normal. Und der Stoff wurde zu stark verdichtet, zu genau verarbeitet, um Lücken in die Erzählstruktur zu weben. Doch das ist nur ein sehr kleines Manko in einer ansonsten so runden Sache.

Die Szenencollage ist von Brüchen durchsetzt – jeder kommt zum Erzählen, jeder darf seiner Figur Ecken, Substanz und Tiefe verleihen. Dieses Konzept zahlt sich aus. Die Bilder sind stark, trotz des sehr überschaubaren Raumes, die Musikauswahl vom Feinsten, und die Geschichte fordert den Zuschauer zwar auch intellektuell – doch hin und wieder vergesse ich mich, in einem Schattenspiel, einem Song, einer Bewegung. Es ist schön, wenn eine eigentliche Herausforderung namens mangelndem Spielraum zu einer solchen Tugend umgearbeitet wird.

Am Ende werden alle losen Enden noch einmal gebündelt. Die Geschichte, die am Anfang beinahe überkomplex anmutete, ist im Grunde ganz leicht. Nachvollziehbar. Und das ist vermutlich das eigentlich Perverse.

Fette Männer im Rock (Nicky Silver)

Regie und Bühne: Lisa Günther

Dramaturgie: Alexandra Hennig

Mit: Tim Josefski, Caroline Kaiser, Christopher Fares Köhler, Julia Pohl

Kostüm: Liese Endler

Eine Produktion von „Von und Über“ in Zusammenarbeit mit Werkstattmacher e.V. und Lofft. Gefördert durch die Stadt Leipzig, Kulturamt.

28. Januar 2013, Lofft


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