Wohin die wilden Vögel ziehen

Das Figurentheater Wilde & Vogel präsentiert eine fantasie- und liebevolle Inszenierung von Selma Lagerlöfs „Nils Holgersson“ im Lindenfels Westflügel

Fotos: Charlotte Wilde

Während dieser Tage im großen Centraltheater in selbstverordneter Gigantomanie das finale Abspielen beginnt, um sich noch ein letztes Mal ganz neu zu erfinden, besinnt sich der Westflügel auf die kleinen, alten Stücke. Das Figurentheater Wilde & Vogel zeigte am 18. Januar gemeinsam mit der Schauspielerin Claudia Olma und unter der Regie Christiane Zangers eine Wiederaufnahme ihrer 15 Jahre alten Inszenierung Nils Holgersson, die auf dem über hundert Jahre alten Literaturklassiker Selma Lagerlöfs basiert. Darin begibt sich der nicht selten zu Übermut und Jähzorn neigende 14-jährige Nils – nachdem er durch einen Hauswichtel selbst auf Wichtelgröße geschrumpft wurde – auf eine Reise durch die Lüfte. Auf dem Rücken seines Gänserichs Martin schließt er sich einer Schar Wildgänse an, mit denen er die schwedischen Landstriche erkundet und dabei vielerlei Bekanntschaften mit Tieren, Menschen und der schwedischen Mythologie entstammenden Fabelwesen schließt. Am Ende des Romans kehrt er, reich an Erfahrungen und Geschichten, nach Hause zurück und wird vom Wichtel in seine reale Größe zurückverwandelt.

Die episodische Erzählstruktur des Romans, wonach jedes Kapitel von einem in sich abgeschlossenen Erlebnis Nils Holgerssons handelt, schien eine Adaption fürs Theater erleichtert zu haben. Wilde &Vogels Inszenierung beschränkt sich auf einige Episoden der Vorlage. Diese inhaltliche und auch textliche Reduktion lässt Raum für eine beeindruckende Vielfalt der Spielformen, die aber nie beliebig wirkt, sondern sich stets mit großer Sorgfalt Nils Holgersson und seiner Geschichte verpflichtet. Dabei ist die Zahl der eingesetzten Materialien begrenzt. Auf der fast leeren Bühne befindet sich nicht viel mehr als ein aufgespanntes weißes Tuch, eine handvoll Puppen und Figuren, getrocknete Blätter und Steine sowie ein Kontrabass, eine Geige und eine Trompete. In der Variation und dem Ausloten der Möglichkeiten dieser überschaubaren Elemente zaubern die drei SpielerInnen die Geschichte von Nils Holgersson.

Der ganzen Inszenierung ist das Interesse an der Geschichte anzumerken und auch das Vertrauen darauf, dass sie ohne viel zusätzliches Brimborium trägt. Claudia Olma fungiert als Erzählerin, die die Textpassagen des Romans spricht. Nils Holgersson strahlt durchweg eine große Ruhe aus, etwa wenn Olma die kleine Nils-Puppe auf einer Gänsefigur derart langsam über die weite Schneelandschaft Schwedens – dem weißen Tuch – führt, dass dies zum stehenden Bild gerinnt. Die Inszenierung weist gerade in ihrer Langsamkeit hohe Sensibilität für das richtige Timing auf. Jedes Bild wird so lange gehalten, dass es eine Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit erhält, aber nie so lange, dass man seiner überdrüssig wird. Das Publikum bekommt durch diese Langsamkeit die Möglichkeit „mitzureisen“, angesichts der klaren Bilder den eignen Assoziationen freien Lauf zu lassen, sowie den Blick auch zum Kleinen und zum Detail schweifen zu lassen.

Denn wie in anderen Wilde-&-Vogel-Produktionen bleiben auch bei Nils Holgersson die skurril-liebevollen Details und Mini-Figürchen nicht aus, diesmal zum Beispiel ein mechanisch betriebener Elch, der gemächlich über die Bühne trabt. Unverzichtbar auch für diese Inszenierung ist außerdem die Theatermusik Charlotte Wildes, die sich mit großer Raffinesse im weiten Feld zwischen Geräusch und Rhythmus, zwischen atmosphärischer Untermalung und Songelementen hin und her bewegt. Ein Höhepunkt ist das mit jazzig gehauchten Lauten vorgetragene Gesangssolo von Fuchs Smirre, einem von Nils` GegenspielerInnen. Diese Gesangseinlage ist zugleich ein Beispiel dafür, wie mühelos Wilde & Vogel kurze Abschweifungen von der Handlung einflechten, um im nächsten Moment wieder elegant zu ihr zurückzukehren.

Die Wahl der bespielten Figuren und Materialien zeugt wie bei Wildes & Vogels späteren Stücken Krabbat oder Toccata von einer schöpferischen Vielfalt. So tauchen relativ naturgetreue Tierfiguren, aber auch nur durch Schatten angedeutete Vögel auf. Diese Mittel des Figurentheaters werden um die noch abstrakteren des Objekt- und Materialtheaters erweitert, wenn der sich von hinten in den gespannten Stoff lehnender Michael Vogel zum Bild für die klirrende Kälte wird, der Nils und seine BegleiterInnen eines Tages ausgesetzt sind. Oder wenn geworfene Steine und getrocknete Blätter als Assoziation für das wilde Fest der Tiere auf dem Kullaberg dienen.

Der Ideenreichtum und die kleinen Überraschungen, mit welchen die Inszenierung aufwartet, vermögen das Publikum in ein verzücktes, kindliches Staunen zu versetzen. Dieses Staunen ist jedoch kein passives, das das Publikum von einer in sich geschlossenen und sich als authentisch gerierenden Kunstwelt fern halten und ausschließen würde. Ganz im Gegenteil ist der Inszenierung eine Kommunikation mit dem Publikum unverzichtbar, was besonders zu Anfang deutlich wird: Während des Sitzplatz-Findens nimmt Claudia Olma mit einzelnen Leuten Blickkontakt auf. Mit clownesk großen Gesten und phantastischem Gebrabbel überredet sie eine Zuschauerin dazu, vorübergehend die eigenen Schuhe mit den bereit stehenden Holzpantoffeln Nils Holgerssons zu tauschen, um kurz darauf den Tausch mit schelmischem Grinsen wieder rückgängig zu machen.

Diese kurze Tausch-Sequenz ist theatertheoretisch interessant. Einerseits werden die Grenzen zwischen Kunst und Realität klar hervorgehoben, indem eben nicht die Schuhe der Zuschauerin auf eine Reise gehen, sondern diejenigen der Kunstfigur Nils Holgersson. Andererseits wird angedeutet, dass sich Nils Holgersson – hier seine Schuhe als pars pro toto verstanden – als Stellvertreter der Zuschauerin auf die große Reise begibt, denn ihre Schuhe werden in ihrem Beisein durch seine ersetzt. Das Publikum ist also nicht passives Beiwerk, sondern, sofern es Lust dazu hat, eingeladen, mitzureisen und dabei eigene Gedanken, Erfahrungen, Assoziationen aufkommen zu lassen.

Der Austausch zwischen Publikum und Figur wird in Nils Holgersson auch um denjenigen zwischen Figur und SchauspielerIn erweitert. So fragt der Hauswichtel zu Beginn nicht nur das Publikum, sondern auch die SchauspielerInnen, ob sie reisefertig seien: „Olma, Vogel, Wilde: seid ihr bereit?“ Alle drei bejahen und ab geht der rasante Flug in die Lüfte. Angesichts dieses routinierten, aber doch stets so spielerisch leicht und überraschend umgesetzten Verständnisses grundlegender Theaterelemente möchte man Nils Holgersson lauthals beipflichten: „Ich lass mir jetzt Flügel wachsen und will mit dem wilden Vogel ziehen.“ Ja, noch mehr Abenteuerreisen mit Wilde, Vogel und ihren MitstreiterInnen!

Nils Holgersson

Figurentheater Wilde & Vogel mit Claudia Olma

Worte und Spiel: Claudia Olma

Ausstattung und Spiel: Michael Vogel

Musik: Charlotte Wilde

Regie: Christiane Zanger

17. Januar 2013, Lindenfels Westflügel

Vom Winzling und den wilden Vögeln – „Nils Holgersson“ im Figurentheater (Tobias Prüwer)

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