Eine Nasenlänge voraus

Die Lofft-Werkstatt zeigt Gogols Groteske „Die Nase“ gepaart mit Bachtins Theorien

Fotos: Thomas Puschmann

Was der russische Dichter Nikolaj Gogol sich bei seiner Novelle Die Nase gedacht haben mag, als er sie 1836 verfasste, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben. Doch seither beißen sich Leser und Autoren die Zähne daran aus, so absurd und scheinbar ohne Sinn erscheint das Werk. Ihre eigene Interpretation der Groteske bringt Regisseurin Veronika Lechner nun im Lofft auf die Bühne. Und zwar im Rahmen der Werkstattmacher, einer Plattform des Hauses, auf der sich junge Künstler ausprobieren können, um Neues, Unfertiges und Experimentelles zu wagen. Experimentell wirkt die Inszenierung Die Nase dabei allemal, wirkt sie doch genauso skurril und wie ihre textliche Vorlage.

Es ist ein paradoxer Vorfall: der prinzipientreue Kowaljow bemerkt eines Morgens den Verlust seiner Nase. Prompt macht er sich auf die Suche nach dem abhanden gekommenen Körperteil, wobei ihm so manch Skurriles wiederfährt. Weder die Polizei, noch das Fundbüro können ihm helfen. Seine Nase indes läuft durch die Stadt und führt ein Eigenleben. Der Inszenierung voran gehen Überlegungen zur der Theorie der grotesken Leibeskonzeption nach Michail Bachtin, wie dem Programmheft zu entnehmen ist. Übertragen auf Die Nase heißt das konkret: der Verlust der Nase geht einher mit dem Selbst- und Körperverlust des Subjekts, Kowaljow kann den gesellschaftlichen Erwartungen nicht mehr gerecht werden.

Die Szenerie selbst wirkt zerstückelt und surreal. Viele kurze Szenen werden mit einem schnellen Tempo aneinandergereiht, alle durchzogen vom Sinnbild der Nase. Den Schauspielern sind keine klaren Rollen zugeteilt, vielmehr rotieren die Rollen stetig. In ihren kaputten, halben oder falsch zusammengenähten, grauen Jacketts wirken sie bizarr uniformiert, und wenn sie sich allesamt Nylonstrümpfe mit riesigen Nasen über die Köpfe und Körper ziehen, erreicht die Skurrilität ihren Höhepunkt. Auf viel Text verzichtet die Inszenierung dabei, lässt lieber Bilder sprechen und ergießt sich in einem Schwall aus Lautmalerei, der sich dabei stellenweise zu sehr in die Länge zieht. Wenn gesprochen wird, dann oft und gern chorisch, als laute Masse. Begleitet wird das Ganze mit Live-Musik, die eine besondere Spannung in das Stück bringt. Mit Gitarre, Synthesizer und Melodica untermalen Lena und Jonas Dorn das Geschehen auf der Bühne und runden es perfekt ab.

Wie könnte man einer Groteske besser auf den Zahn fühlen als durch Skurrilität? Regisseurin Lechner paart in ihrer Inszenierung assoziativ-fragmentarische Bilder mit der Theorie vom grotesken Leib und lässt so ein Stück entstehen, das vor allem viele Fragezeichen in den Köpfen der Zuschauer hinterlässt. Und das ist ihr durchaus bewusst, wie die letzte Szene des Stückes deutlich macht: Eine der Schauspielerinnen liest stammelnd aus Gogol, wirkt dabei verzweifelt. Letztlich schmeißt sie das kleine gelbe Reclam-Heftchen zu Boden und brüllt immer wieder: „Ich versteh es nicht. Ich versteh es einfach nicht!“ Doch was macht das schon, denn die Nase taucht plötzlich wieder an ihrem alten Platz auf. War am Ende alles nur ein Traum? Eine Antwort gibt es an diesem Abend nicht. Gogol würde wahrscheinlich grinsen und die lange, spitze Nase kräuseln.

Die Nase

Eine Produktion von Go figure! in Zusammenarbeit mit Werkstattmacher e.V. und Lofft

Premiere 26. Februar 2013, Lofft


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