Kessel, Karten, Hasardeure. Die sechste Ausgabe der „Stallgespräche“ im Erfrischungsfoyer des Centraltheaters
„…der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Der bekannte Satz aus Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, die den Spieltrieb im Zusammenhang moralischer Vollkommenheit und Glückseligkeit verhandeln, dient als Motto der sechsten Stallgespräche um den Moderator Clemens Meyer und seinem Sidekick Enrico Meyer. An diesem Abend steht allerdings nicht die Metaphysik des Spielens im Mittelpunkt. Vielmehr geht es im verrauchten Erfrischungsfoyer des Centraltheaters um die praktische Ausführung des Spiels großer Jungen – eine Hommage an den Homo ludens. Dabei ist nicht das Spielen mit Spielzeug im Fokus, nicht das Sammeln welcher Art auch immer, auch nicht das Modellbauen, sondern das Spielen um Geld. Es geht um Gewinnen und Verlieren, um Spielsysteme und Professionalisierung. Einfach gesagt: Es geht ums Zocken!
Als ersten Gast hat sich Meyer diesmal den Beobachtungsspieler Christian Kaisan eingeladen. Der gebürtige Sachse hat seit 1968 – von da an war das Glücksspiel in der DDR nicht mehr verboten – mehr als vier Millionen Euro gewonnen, und das steuerfrei. Seine Paradedisziplin ist das Roulettespiel. Mit Glücksspiel hat die ganze Sache allerdings nichts zu tun. Kaisan hat es in einem dreijährigen „Studium“ eines Kessels (so heißt die Roulettemaschine, in der die Kugel kreist) in der Spielbank Hittfeld (südlich von Hamburg) dazu gebracht, beinahe punktgenau vorauszusagen, in welches Nummernfach die Kugel fällt. „Roulette ist ein relativ simpler mechanischer und mathematischer Prozess, den man berechnen kann“, sagt der 1981 aus der DDR ausgewanderte „Jäger des Zufalls“, wie ihn das Manager Magazin 2006 bezeichnete. In 60 der 76 deutschen Casinos ist der Kesselgucker Kaisan gesperrt, was ihn nicht davon abhält, im Rest der Welt die Kassen der Spielbanken um hohe Beträge zu erleichtern. „Du musst kalt sein wie eine Hundeschnauze und wissen, wann du aufhören musst“, so die Lehre des Profis, der mit Meyer am eigens für die Show aufgestellten Roulettetisch ein paar Runden spielt und in Grundzügen erklärt, was beim Kesselgucken beachtet werden muss. Auch ein Croupier ist für den Abend organisiert worden.
„Ist Spielen leben? Warum spielen Sie?“, fragt Meyer. Kaisans einfache wie treffende Antwort: „Von irgendetwas muss ich ja leben.“ Überhaupt ist Kaisan ein willkommener Gast. Schlagfertig und sympathisch antwortet er auf Meyers Fragen, bezeichnet den Showmaster sogar als schlechten Spieler und rät ihm ab, ins Casino zu gehen.
Auch Clemens Meyer hat hier alles im Griff, es gibt keine Längen. Man merkt, dass er in seiner Materie ist. Selbst sein oranges Hawaiihemd passt neben dem gegelten Mittelscheitel und den getönten Brillengläsern ins Erscheinungsbild des Spielers. Bukowski, Dostojewskis Spieler, und nicht zuletzt Ian Flemings James Bond sind Figuren, die einem vorm geistigen Augen vorbeischweben.
Als zweiten Gast hat Meyer den wortkargen Pokerspieler Oliver eingeladen. Der kurz angebundene Mensch, der sicher Poker spielen kann, was seine Teilnahme an der World Series of Poker beweist, erweist sich als ungeeigneter Gesprächspartner. Am Pokertisch muss man ja auch nicht reden.
Schlimm nur, dass man in Ermangelung fruchtbarer Gesprächthemen, die das Pokerspiel sicherlich bietet, auf eine höchst bedenkliche, mitunter respektlose Art und Weise auf die Rolle der Frau im Spielbetrieb eingehen muss. Frauen sind die, die das Geld verspielen, Männer benutzen Logik, Frauen sind emotional – uralte Stereotypen von alten Männern, die sich damit um Kopf und Kragen reden. Pokerspieler Oliver fragt, als er erfährt, dass der Frauenanteil in Casinos bei 40 Prozent liegt: „Inklusive des Barpersonals?“ Plumper geht es nicht. Postpubertärer Sexismus, archaische Rollenzuschreibungen, professionell geht anders. Enrico Meyer, der gute Geist aus dem Off, unterbricht zum Glück dieses Gender-Gambling und schreitet zur abendlichen Verlosung. Diesmal gibt es statt einem Bier eine Eintrittskarte für ein Pokerturnier in Leipzig zu gewinnen. Auch ist die Aufgabe, entgegen der Frage der letzten Veranstaltung, vergleichsweise einfach zu bewältigen. Die freiwilligen Kandidaten müssen Roulette spielen. Trostpreise sind ein „echter“ belgischer Diamant, ein Würfel, ein pissgelber Jeton und eine Ibuprofen 400.
Aber warum spielt der Mensch denn nun? Warum ist er erst dann Mensch, wenn er spielt? Die Frage nach dem verborgenen Sinn des Spielens, wie es das schillersche Motto schon ankündigt, die Frage nach dem mythisch anheimelnden Urgrund des Triebs, taucht immer wieder auf, findet aber nur wenig Beachtung. Schon allein, weil Meyer die Frage nicht konsequent genug stellt und selbst nicht den Anschein erweckt, als hätte er eine Antwort darauf. Es kommt einer Suche im Gespräch gleich, der kleistischen, allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden, die dann aber leider ins Leere ausläuft. Statt dem wortkargen Oliver hätte man sich vielleicht einen Philosophen einladen sollen, oder jemanden, der etwas zur Metaphysik des Spielens hätte beitragen können.
Nichtsdestotrotz zeigt die sechste Ausgabe der Stallgespräche über weite Strecken des Abends ihre guten Seiten. Weniger Inszenierung und mehr Talk taten dem Format in der Openair-Veranstaltung im Sommer schon sehr gut. Auch wenn der Lesevortrag zu Beginn diesmal fehlte und auch niemand ein Gemälde zum Abend entwarf – was zu verschmerzen ist, aber vermisst wird.
In kleiner Runde des Erfrischungsfoyers, zu Zigaretten und Bier, ist das Talkformat in einem Raum angekommen, der wie gemacht ist für die Ansprüche des Abends. Publikumsnähe, Gemütlichkeit und ein interessanter Gesprächspartner, dazu subtile musikalische Untermalung und ein Hauch Ungezwungenheit – das sind die besten Zutaten für einen gelungen Gesprächsabend.
Stallgespräche #6 – Der Mensch ist nur Mensch, wo er spielt
Mit: Clemens Meyer, Enrico Meyer, Christian Kaisan, Pokerspieler Oliver
23. Februar 2013, Centraltheater
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