Im Gedankendickicht des dicken Dichters

Thomas Hettches Essaybuch „Totenberg“ über Thomas Mann, Ernst Jünger und Adipositas überzeugt nur bedingt

In Zeiten eines durchästhetisierten Buchmarkts ist der Spruch „never judge a book by its cover“ obsolet. Bei Thomas Hettches Totenberg ist ein anfänglicher Blick auf das rein Außerliche des Buches erfrischend irritierend. Zuerst erinnert die edle Verarbeitung vom Material und Aussehen her ein wenig an Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe, dann fällt auf, dass über oder unter dem Titel gar kein Autor vermerkt ist. Hettches Namen findet man also nur auf dem Buchrücken, was aber nicht heißen soll, dass dieses Buch frei von jeglicher Eitelkeit wäre. Doch darüber später mehr.

Vorab ist es zur Orientierung ganz hilfreich, wenn man das Konzept dieses Zwitterbuchs aus Autobiographie und Essay kurz erklärt. Jeder der zehn Texte handelt von der direkten oder indirekten Begegnung Hettches mit einem lebenden oder verstorbenen Künstler oder einer akademischen Geistesgröße des 20. Jahrhunderts. Ob nun Ernst Jünger und Thomas Mann oder Anita Albus und Filmlegende Hans-Jürgen Syberberg: In jedem der Texte greift Hettche auf seine Autobiographie zurück, ordnet dabei Lebensabschnitte ein und reflektiert sie zu dem Thema, um das es im jeweiligen Essay eigentlich geht.

Dieses Konzept erscheint zuerst einmal so einfach wie genial und lässt erzählerisch wie gedanklich viele Möglichkeiten. So kann es bei aller emotionalen Rückschau richtig spannend werden, wenn Hettche von einer Kiste auf dem Dachboden seines Elternhauses erzählt, in der alles versteckt lag, was noch an die Vergangenheit der Mutter als Sudetendeutsche erinnert. Allein die Szenerie der Nachkriegswohnsiedlungen und der sehr langen Sommer in Hettches Kindheit wären in Verbindung mit der Dachbodenkiste ein ganzes Buch wert, aber Hettches Selbstbetrachtungen weichen ab und werden gar – man traut es sich gar nicht zu sagen bei so einem gebildeten Autor – oberflächlich.

Ziemlich genau in der Mitte des Buches schreibt Hettche nämlich über sein eigenes Äußeres, das schon immer von einer mehr oder weniger ausgeprägten Adipositas geprägt ist. Um noch genauere Informationen zu einer der am weitesten verbreiteten Volkskrankheiten einzuholen, besucht Hettche einen Vortrag in der Berliner Helios-Klinik. Dass ihm dabei noch Rilkes Credo „Du musst dein Leben ändern“ durch den Kopf geistert, wenn die vortragende Ärztin Susanne Wiesner über die zukünftigen Auswirkungen der Fettleibigkeit referiert, ist noch einigermaßen nachvollziehbar, auch wenn damit schon die anfänglich aufblitzende Uneitelkeit Hettches unmittelbar aufgebrochen wird und einem das ganze Buch madig macht. Ein paar Seiten später findet Hettche die Antwort zu seinem Gespräch mit einer Adipositasspezialistin allen Ernstes bei Carl Schmitt: „Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt. Es muß heißen: Unsere eigene Gestalt ist der Feind, der uns in Frage stellt.“ Eine Bemerkung, die man in einem Gespräch wohl höchstens mit einem verstört-erstaunten „Aha“ quittieren würde.

Thomas Hettche hat ein Buch für Bildungsbürger geschrieben, die ihre Antworten nur in der Vergangenheit zu finden vermögen. Es mag sein, dass Hettche Geschichte nicht verklärt, trotzdem nervt seine peu à peu weitestgehend völlig ironiefrei erzählte Inszenierung als von Lehrern und Akademikern gefördertes Originalgenie, dem das Interesse für Philosophie und die Antike anscheinend einfach so zuflog. Eine neue Hinwendung zur Antike als Lösungsansatz für den angeblichen Untergang der Buchkultur zu benennen, lässt das Buch leider völlig irrsinnig enden (man denke nur an den eingangs erwähnten Bucheinband, der dem Buchmarkt aufmerksamkeitsheischend Rechnung trägt). Zum Schluss kommt Hettche zu der Überzeugung, dass wohl gar nichts bleiben wird in der Zeit eines medialen Wandels, wie wir ihn angeblich so drastisch erleben. Wenn man bedenkt, dass auch so ein durchwachsenes Buch wie Totenberg dem Vergessen geweiht ist, erscheint dieser Schluss gleich weniger dramatisch.

Thomas Hettche: Totenberg

Kiepenheuer und Witsch

Köln 2012

224 Seiten – 18,90 Euro


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.