Die achte Ausgabe der Meyer’schen Stallgespräche: „Leidenschaft Briefmarke“ im Centraltheater
Viele werden die Sammelleidenschaft der Philatelisten noch von ihren Großvätern kennen oder am eigenen Leib erfahren haben. Von manchen wird diese Neigung als zwangsneurotisches Gehabe argwöhnisch beäugt, für andere eröffnet sich mit dem Aufschlagen eines Briefmarkenalbums ein ganzer Kosmos an Bezügen und Querverweisen. Der Abend im Erfrischungsfoyer des Centraltheaters, der unter dem Motto „Leidenschaft Briefmarke“ stand, hat gezeigt, dass es sich lohnt, dieser Liebhaberei nachzuspüren.
Clemens Meyer zeigt dem Publikum zu Beginn (via Kamera und Monitor) mitgebrachte Alben, präsentiert sein eigenes und erklärt sich selbst und dem Zuschauer, was das Besondere beim Sammeln der gezahnten Postwertzeichen ist. Der Sammler sei auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Er versuche, die Leere im eigenen Leben zu füllen. Durch das Anhäufen erwerbbarer Fetische zelebriert der Sammler die letzten greifbaren, materiellen Dinge der Sehnsucht. Einer Reise durch vergangene Zeiten gleich wandelt der Betrachter auf den historischen Spuren der Menschheitsgeschichte, eilt mit Siebenmeilenstiefelen von Land zu Land, überquert Kontinente und Zeitgrenzen. Als Bildungsträger kann die Briefmarke ganze Zeitepochen erfahrbar machen und vermitteln, länderspezifisch andere Sichtweisen auf Entwicklungen eröffnen und das Herkunftsland nach außen repräsentieren. Das Briefmarkenalbum ist ein Geschichtsbuch, in dem es sich lohnt zu lesen. Und das nicht nur allein. Das Sammeln hat dazu noch die soziale Potenz des Austauschs mit Gleichgesinnten zum Zweck. Gesammelt wird nie ganz allein.
Als Gast haben sich Meyer und Meyer den Vorsitzenden des sächsischen Philatelistenverbandes Dr. Harry Pätzold eingeladen. Der Gast doziert in gestochen scharfer Manier über seine Sammelleidenschaft und gibt auch einige Details der Geschichte der Briefmarke preis. Der Zuschauer erfährt, dass es das rechteckige Kleinod erst seit 160 Jahren gibt und das Briefmarkensammeln in China ein ordentliches Schulfach ist. Auch die Kostbarkeiten einzelner Marken, wie der Sachsendreier, kommen zur Sprache.
Auf Nachfrage Enrico Meyers erklärt Pätzold, dass es eine moralisch seriöse Art des Sammelns geben muss, der der Sammler dadurch folgt, indem er gewisse Marken nicht sammelt. Spannenderweise findet sich im Album von Clemens Meyer eine Briefmarke mit dem Konterfei Adolf Hitlers, auf der auch noch die Zahl 88 zu sehen ist. Wurde der Code für „Heil Hitler“ auf dieser Devotionalie der Nazis unbewusst schon vorgeprägt (hier im wörtlichsten aller Wortsinne)?
Dr. Pätzold präsentiert gegen Ende des Abends in ausschweifender, aber nie uninteressanter Art seine Sammlung, die er zu dem Thema „Familie und ihre Funktion“ über 25 Jahre zusammengetragen hat. Es ist beeindruckend und faszinierend, wie anhand von Briefmarken die Genese der menschlichen Hausgemeinschaft philatelistisch belegt werden kann.
„Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren“, sagt Clemens Meyer am Ende des Abends, was auf dieser Reise durch die verlorene Zeit nur allzu verständlich ist. Wie in einer Zeitblase folgt der Zuschauer den bunten Bildern aus vergangenen Epochen, wird von den wortreichen Ausführungen des Showmasters mitgenommen und in einen Kosmos fernster Bezüge entführt. So sanft und lyrisch ging es selten zu bei den Stallgesprächen, die Meyer diesmal selbst als Nostalgie-Show betitelt. Alles fließt an diesem Abend, geht ineinander über und ordnet sich am Ende, wie die vielen einzelnen Marken in einem Album, zu einem großen Ganzen, das existentiell weit über das Sammeln der Briefmarke hinausgeht. Wenn ein Gespräch über einen kleinen Papierschnipsel so etwas bewirken kann, dann muss es als rundum gelungen angesehen werden.
Stallgespräche #8 – „Leidenschaft Briefmarke“
Clemens Meyer
Mit: Dr. Harry Pätzold, Vereinsvorsitzender Philatelistenverein Leipzig e.V.
14.06.2013, Festspielarena im Centraltheater
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