Kritik der Disziplin

Ulrich Seidls „Paradies: Hoffnung“ bringt seine Trilogie über drei Frauen auf der Suche nach Glück würdig und krönend zum Abschluss

Im Diätcamp sollen aus dicken Jugendlichen Selbstoptimierer werden (Fotos: Praesens Film)

Im Leben eines jungen Menschen gibt es wohl kaum ein größeres Martyrium als den Sportunterricht. Es ist schlicht und ergreifend demütigend Leibesübungen verrichten zu müssen, zu denen man physisch nicht in der Lage ist, entweder aufgrund mangelnder Körperbeherrschung oder Übergewicht. Auch Melanie (Melanie Lenz) ist mit ihren dreizehn Jahren zu dick. Deshalb steckt sie ihre Mutter in ein Diätcamp.Wie sich Melanies Mutter zur gleichen Zeit in Kenia mehr oder weniger vergnügt, das ließ sich in Paradies: Liebe, dem ersten Teil von Ulrich Seidls Paradies-Trilogie, nachvollziehen. Wer beide Vorgänger kennt, wird zu dem Schluss kommen, dass Melanie wohl von allen drei Frauen dem am nächsten Kommt, was die drei Filme unter den jeweiligen Titeln (Glaube, Liebe und Hoffnung) versprechen. Und das trotz der täglichen Quälereien durch den Sporttrainer (Michael Thomas).

Aber wie kommt man nun zu dem Schluss, dass der letzte Film von Seidls Trilogie zugleich der schönste und versöhnlichste sein soll? Nun ja, das liegt schlicht und ergreifend daran, dass Seidl hier eine Liebesgeschichte präsentiert, wie man sie nur selten zu sehen bekommt. Melanie verliebt sich nämlich Hals über Kopf in den Arzt des Camps (Joseph Lorenz). Die Liebe geht so weit, dass Melanie immer wieder Beschwerden vortäuscht, nur um dem geschätzt 40 Jahre älteren Arzt nahe sein zu können. Der Arzt lässt sich teilweise auf Melanies Avancen ein, hat sichtlich Freude an ihren schmachtenden Blicken und zeigt ihr, wie man den menschlichen Körper mit einem Stethoskop abhorcht. Bei aller Irritation des Arztes und der außer Kontrolle geratenen Gefühlswelt Melanies darf diese Liebe nicht sein. Die im Camp stetig mit ihrem Körper kämpfende Melanie bezieht die Zurückweisung des Arztes natürlich auf ihren Äußeres, ist der Doktor doch rank, schlank und kerngesund.

Die eiserne Selbstbeherrschung formt zwar den Körper, nicht aber den Geist

Das Besondere an diesem Film ist die Art und Weise, in der dicke Jugendliche hier inszeniert werden. Entgegen aller in Dokusoaps und anderen Formaten gestreuten Vorurteile sind Melanie und ihre Mitstreiter Individuen, die etwas zur Aura des Filmes beizutragen wissen. Sei es Verena, die beste Freundin Melanies, oder der blonde Junge, der beim Flaschendrehen die Hüllen fallen lassen muss. Alle Jugendlichen und auch ihre dazugehörigen Körper weiß Seidl einfühlsam, aber auch ohne falsche Scheu in Szene zu setzen. Der lange Castingprozess von rund anderthalb Jahren war wohl die Grundsteinlegung für das vertrauensvolle Verhältnis zwischen den Darstellern und dem Regisseur. Zudem kann Seidl einen positiven Nebeneffekt für sich verbuchen: Der Vorwurf, ein reiner Voyeurismus- und Nabelschaufilmer zu sein, wird in Paradies: Hoffnung gekonnt entkräftet.

Paradies: Hoffnung handelt eigentlich davon, dass Jugendliche Freiheit und das Überschreiten von Grenzen brauchen, um sich im hormonellen Wirrwarr der Pubertät selbst zu finden. Sobald einem das bewusst wird, kommt einem das ständige Gerede des Sportlehrers über Disziplin nur umso lachhafter vor, formt die eiserne Selbstbeherrschung doch wohl in erster Linie den Körper und nicht den noch jungen wie wachen Geist. Die drögen Sportübungen, die im Film immer wieder in langen Einstellungen zu sehen sind, nehmen dabei eine Stellvertreterposition ein für die innere Ungeduld der Campteilnehmer, endlich wieder frei zu sein und draußen oder auf ihren Zimmern herum zu albern. Den Abschluss des Films bildet eine gemeinsam und schweigend eingenommene Mahlzeit. Vielleicht ist Essen dann doch die einzige Handlung im Leben, die Hoffnung spendet und (körperliche) Liebe ersetzt?

Paradies: Hoffnung

Österreich/Frankreich/Deutschland 2013, 100 Minuten

Regie: Ulrich Seidl; Darsteller: Melanie Lenz, Verena Lehbauer, Joseph Lorenz, Viviane Bartsch

Kinostart:16. Mai 2013


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