Die Grenzen des naturalistischen Theaters

Die Inszenierung „18109 Lichtenhagen“ ist hautnah zu erlebender Hyper-Naturalismus in einem Plattenbau

Aufführung in Stuttgart im vergangenen Jahr (Foto: Tobias Metz)

Theater an realen Schauplätzen ist in den letzten Jahren insbesondere in der Freien Szene in Mode gekommen. So unterschiedlich all die Projekte im Schwimmbad, Puff oder Auto auch sein mögen: Ihnen allen ist die Tendenz abzulesen, die Trennung zwischen gesellschaftlicher Realität und Kunst aufs Spiel zu setzten, eine größere Nähe zur Realität herzustellen. Widmet sich aber das Theater an realen Orten notwendigerweise den brennenden Fragen der Realität, erzählt es automatisch etwas über die Erfahrungen unserer Zeit? Oder ist es bloß langweilige oder – noch schlimmer – affirmative Wiederholung dessen, was wir ohnehin schon kennen? Und kann Theater überhaupt jemals real, echt sein?

Inspiriert vom Fernseh-Voyeurismus

Mit diesen Fragen im Kopf machte ich mich am 20. Mai 2013 auf nach Grünau, wo in der Erdgeschosswohnung eines Plattenbaus das Stück 18109 Lichtenhagen unter der Regie von Christian Müller aufgeführt wurde. Bereits der Hinweg, der aus der Stadt in eine Gegend führt, in der sich der Großteil des Publikums wohl selten aufhalten dürfte, lässt erahnen, dass 18109 Lichtenhagen die theaterüblichen Erwartungshaltungen und Rezeptionsweisen durchkreuzt. Im Frankenheimer Weg 11 angekommen, musst man unter „Rabert“ klingeln, um dann auf kurze Nachfrage des Hausherren via Fernsprechanlage eingelassen zu werden. Michael Rabert, ein gutgelaunt-hyperaktiver Typ Ende 20 (gespielt von Christian Streit) führt das nach und nach eintröpfelnde Publikum freimütig in seine recht karg eingerichtete Wohnung und, nachdem sich alle eingefunden haben, auch in seine Geschichte ein. Er möchte einen Bewerbungsfilm für die Filmhochschule drehen, um als Künstler in einer der Metropolen den Provinzmief seiner Heimat Rostock-Lichtenhagen hinter sich zu lassen. Im Verlauf des Stücks gewinnt man allerdings den Eindruck, dass es ihm vor allem um das Zurück-Lassen der eigenen Vergangenheit geht. Inspiriert von pseudo-dokumentarischem Fernseh-Voyeurismus wählt er für seinen Film ein kongeniales Thema: seine Familie. Diese besteht aus Mutter (Andrea Leonetti) und Schwester Klara (Sarah Kempin), die nach einer kurzen Irritation über die vielen unerwarteten Besucher – das Publikum – sich mal mehr, mal weniger bereitwillig bei der Bewältigung ihres Alltagslebens filmen lassen.

Ausgelöst durch Michaels Dreharbeiten entspinnt sich zwischen Kaffee Kochen, Zähneputzen und Hometrainer eine (Re-)konstruktion der Familiengeschichte vor und für die Kamera. Verdrängte Verletzungen und enttäuschte Hoffnungen kommen ans Licht. Es entbrennt ein Streit um die richtige Version des Vergangenen. War Michaels und Klaras Vater vor allem ein Stasi-Spitzel, der die Familie bis heute immer wieder im Stich lässt oder im Angesicht des hereinbrechenden Kapitalismus eine heldenhafte Figur? Ist Michaels Freund Fuffi ein Neonazi oder eine durch DDR-Heimerfahrungen gebrochene Person? Mutter, Bruder und Schwester ringen – mal vor, mal hinter der Kamera – um Deutungshoheit. Das Publikum ist die ganze Zeit hautnah und meistens dicht in die Ecken gedrängt dabei. Es gibt keine festen Sitzplätze und man darf sich frei durch die Wohnung bewegen, dem Geschehen auf den Fersen.

Michaels Intention besteht vorrangig in der angemessenen Repräsentation vor der imaginären Filmhochschulkommission. Kommentare wie „Mach mal authentisch, Muddi“ ironisieren seinen Versuch, die Realität in einem Kunstwerk ungefiltert greifen zu wollen. Witzig ist auch seine mehrmalige Wiederholung des Satzes „Es ist ein Wunder, dass dabei niemand drauf ging“, als wäre er die Karikatur eines Nachrichtensprechers, der die Nuancen zwischen Betroffenheit und journalistischem Alarmismus auskostet.

Konfrontatives Dreiecks-Kammerspiel

Dagegen lassen sich in den biographischen Erzählungen von Mutter und Schwester Privates und Politisches von vornherein nicht voneinander trennen. Fluchtpunkt dieser Erzählungen ist das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen auf ein AsylbewerberInnenheim durch BewohnerInnen des Viertels 1992. Zu diesem Fixpunkt kehren die biographischen Erzählungen scheinbar wie von selbst immer wieder zurück. Immer intensiver wird er in Erinnerungsfetzen, Rechtfertigungen und gegenseitigen Schuldzuweisungen umkreist. Durch das konfrontative Dreiecks-Kammerspiel erodieren allmählich Michaels zurechtgelegte Gewissheiten. Während er sich zu Beginn vehement einer Auseinandersetzung mit dem Pogrom verweigerte, bekennt er sich am Ende zu seiner unbedarften Mittäterschaft als Kind.

Stuttgart 2012 (Foto: Tobias Metz)

Die emotionale Berg- und Talfahrt, die schauspieltechnisch mittels des Prinzips der Einfühlung in die darzustellenden Charaktere vollzogen wird und im „echten“ Tränenausbruch der Mutter kulminiert, verquickt sich mit der „Echtheit“ des Realschauplatzes Frankenheimer Weg 11, der dem Wohnviertel Rostock-Lichtenhagen architektonisch ziemlich ähnelt, zu einer Ästhetik des Hyper-Naturalismus. Als würde man nicht einer Theaterinszenierung, sondern einem realen Familienstreit beiwohnen, diskutieren, schreien und toben die drei Protagonisten durch ihre Wohnung ohne Rücksicht darauf, ob sie das gerade im Sichtfeld des Publikums tun oder nicht. Die Mutter bereitet in der Küche Kaffee und Schnittchen vor, die sie anschließend den fremden Gästen reicht. Der Film wird tatsächlich gedreht, nicht nur angedeutet. Und man hat sich sichtlich Mühe gegeben, den Babybauch der Schwester naturgetreu erscheinen zu lassen.

Dieses naturalistisch motivierte Anliegen, mit den Mitteln der Kunst soweit als irgend möglich an die Realität herankommen zu wollen, tritt in 18109 Lichtenhagen nicht in Reinform zu Tage. Durch verschiedene Mittel wird es teilweise gebrochen, nämlich durch die nahezu unmöblierten Räumlichkeiten, die Musikbegleitung, die aufgestellten Monitore und die Unterbrechung der Handlung durch eine assoziative Filmkollage. Während der Kunstgriff, mehrere Monitore aufzustellen, mit seiner Praktikabilität erklärt werden kann, da so die in der ganzen Wohnung verteilten Zuschauer den Filmdreh miterleben können, wirken die anderen Verfremdungseffekte eher ästhetisch unentschlossen. Sie zielen in eine andere Richtung als der tendenziell naturalistische Aufbau und es wird nicht klar, was das für die Inszenierung bringt. Warum versucht sich die Inszenierung einerseits bei Kostüm und Bühnenbild zurückzuhalten und eine gewisse Distanz zur Realität wahren zu wollen, wenn man sich andererseits für einen realen Schauplatz als Aufführungsort entschieden hat? Auch der notwendig erforderliche Umgang mit dem Publikum – in den engen Räumlichkeiten wird dieses die ganze Zeit über notwendigerweise einbezogen und aufgefordert, mal zur Seite zu rücken oder ein Kabel zu halten – ist angesichts des hyper-naturalistischen Settings eher störend. Denn wieso sollte sich jemand während eines Filmdrehs in der eigenen Wohnung nicht über die Anwesenheit unbekannter Besucher wundern? Glücklicherweise vergisst man aber angesichts des packenden Spiels und der spannungsgeladenen Zuspitzung schnell diese Ungereimtheiten. Den drei Schauspielern gelingt durchweg der Spagat, einerseits mit dem Publikum auf Tuchfühlung zu sein und andererseits eine hochemotionale Innenschau der Charaktere voranzutreiben. Allenfalls hätten manche Brüche etwas klarer gespielt werden können.

„Seh ich eigentlich arg fett aus?“

Dass man als Zuschauende so schnell in die Geschichte hineingezogen wird, mag vor allem an der räumlichen Nähe zum Geschehen liegen. Dies ist nur ein Indiz dafür, dass der ganze Abend etwas sehr Filmisches hat, was nicht nur inhaltlich durch den Vorgang des Filmdrehs offensichtlich wird. Die drei Schauspieler sprechen sehr natürlich, also eher dem privaten Sprechduktus in den eigenen vier Wänden angepasst, anstatt stilisiert, was sich in einem hohen Sprechtempo und stark wechselnder Lautstärke äußert. Während im Film mit Hilfe von Kamerafahrten und Tontechnik „natürliches“ Sprechen möglich wurde, geht die gleiche Sprechweise im Theater ohne technische Hilfsmittel teilweise auf Kosten der Verständlichkeit. Dies ist nicht weiter schlimm sondern verstärkt eher den Eindruck des Live-Dabeiseins.

Aufführung in Leipzig (Foto: Daniel Pesti)

Filmisch sind in 18109 Lichtenhagen auch die abrupten Wechsel zeitlicher Ebenen, zwischen denen die Charaktere hin und her springen. Das Erinnern von Vergangenem, die Tätigkeit des Filmdrehs und die Verständigung in und über die Gegenwart wechseln blitzschnell und ohne Ankündigung. Dies ähnelt der Montagetechnik, welche die verschiedenen Zeitebenen mittels Rückblenden noch stärker hervorheben würde. Psychisch springen die Charaktere zwischen hochemotionalen Ausbrüchen und versöhnlichen Witzeleien hin und her. Insbesondere im ersten Drittel des Abends wechselt die Dynamik häufig und überraschend zwischen tiefgreifend und entschärfend, wodurch die Geschichte nur zögerlich vorankommt und das Publikum die Unklarheit der ProtagonistInnen, was überhaupt erzählt werden soll, am eigenen Leib erfährt. Diese plötzlichen Brüche bedeuten auch ein Sich-Abwechseln von Tragödie und Komödie, wenn die Auseinandersetzungen um die Vergangenheit durch Alltagstrivialitäten wie Klaras Frage „Seh ich eigentlich arg fett aus?“ in die Gegenwart zurückgeholt werden. Dieses Zurück-geholt-Werden aus der Tragödie hat etwas sehr Entlastendes – nicht zuletzt für das Publikum – und verhindert, dass das Stück in überbordende Tränenrührseeligkeit abdriftet. Im Verlauf der Inszenierung aber liegt der Fokus von 18109 Lichtenhagen auf psychisch-tragödienhaften Dynamiken und steht auch durch dieses auf psychische Nuancen konzentrierte Spiel dem Film sehr nahe. Den ProtagonistInnen wird mehr und mehr Raum für die hochemotionale Rekonstruktion der eigenen Erinnerung gelassen, die Inszenierung wird immer weniger komödiantisch. Die Einstellungen werden – mit den Begriffen des Kinos gesprochen – länger.

An der Grenze zum Film

Die Inszenierung bewegt sich an der der ästhetischen Grenze des Theaters zum Film. Fast ist man geneigt, die Dreiecksgeschichte in Filmbildern zu sehen: Treibende Dialoge als „halbnahe Einstellungen“ und hochemotionale Implosionen des Einzelnen als „Nahaufnahmen“ wechseln sich ab und entwickeln sich zur treibenden Dramaturgie eines Psychothrillers. Christian Müller hat die bereits in der Textfassung von Anne Rabe angelegten filmischen Mittel inszenatorisch aufgegriffen und verstärkt, indem er das Geschehen in einer Platte stattfinden lässt. Das ist klug, würde doch die angestrebte „Authentizität“ im artifiziellen Rahmen einer Theaterbühne außerordentlich künstlich wirken. Wie bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts das naturalistische, psychologische und auf „Echtheit“ bedachte Theater durch die Erfindung des Films übertroffen und abgelöst wurde, so landet auch Müller mit seinem Versuch, naturalistisches Theater zu machen, bei einer filmischen Ästhetik. Man könnte seine Inszenierung als Indiz dafür sehen, dass Naturalismus im Theater nicht funktioniert. Denn das Theater weist im Gegensatz zum Film immer schon eine größere Distanz zur Realität auf und steht somit im Widerspruch zum Naturalismus, der die Distanz so weit als möglich überwinden will.

Dass es 18109 Lichtenhagen gelingt, ein soziales Drama ohne sozialromantischen Betroffenheitsgestus zu sein, liegt nicht zuletzt am großartigen Dramentext von Anne Rabe, der 2008 in Chemnitz uraufgeführt wurde und für den sie im selben Jahr mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker ausgezeichnet wurde. Rabes Werk ist eine sehr kluge Aktualisierung der literarischen Gattung des Dramas. Durch die Einführung der Kamera tritt das Geschehen als Inszenierung zutage und geht so souverän mit dem Grundproblem des naturalistischen Dramas um, dass man authentische, echte Charaktere nicht künstlich herstellen, spielen kann. Überhaupt dient die Kamera als treibender Motor des Handlungsgeschehens. Wie etwa in Gerhard Hauptmanns sozialem Drama Vor Sonnenaufgang von 1889 sind die Individuen in 18109 Lichtenhagen nicht mehr in der Lage, ihr eigenes Schicksal, die Handlung, selbst voranzutreiben, wie es für das klassische Drama konstitutiv war. Bei Hauptmann ist es das Eintreffen eines Fremden, bei Rabe ist es die Kamera, die eine Veränderung auslöst und vorantreibt. Die Passivität der Individuen, deren Handeln bei Rabe auf die Reflexion des Vergangenen beschränkt bleibt, zeigt sich am grausamsten zum Schluss: Mutter und Tochter bringen in letzter Sekunde das Filmmaterial zum Verschwinden, weil es ihnen doch als zu explosiv und entblößend erscheint, um es nach Außen gelangen zu lassen. Die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld, welche die Kamera ins Rollen gebracht hatte, war also nur vorübergehend und bleibt – so wie Hauptmanns Fremder – äußerlich. Als könnte das Drama heute keinen Schluss mehr finden, kein überzeitliches, abgeschlossenes Ganzes mehr sein, geht bei Rabe das eigentliche Drama weiter, obwohl die dramatische Handlung, der Filmdreh, längst zu Ende ist. Michael und seine Familie werden weiter in ihrer Platte wohnen und eine Schutzschicht des Schweigens über die Vergangenheit legen. Alles macht weiter wie bisher. Das gilt vielleicht nicht fürs Publikum. Auf dem Rückweg von Grünau zurück in die Stadt stelle ich fest, wie anregend dieser Abend war.

18109 Lichtenhagen

Eine Produktion von Citizen.KANE

Regie von Christian Müller

20. Mai 2013, Leipzig-Grünau


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