Inventar der Gefühle

Vom Tagträumer zum Zupacker: Nach 50 Jahren ist Edward Lewis Wallants Roman „Mr Moonbloom“ erstmals auf Deutsch erschienen

Norman Moonbloom, nach eigener Aussage „New Yorks gebildetster Mieteintreiber“, hätte ein durchaus bequemes Leben haben können. Wäre er wie sein Bruder Irving so vorausschauend gewesen und hätte das großväterliche Erbe in Immobilien investiert, dann säße er am längeren Hebel. Stattdessen muss sich der 33-jährige Träumer von Irving die Leviten lesen lassen. Denn seine 14 Jahre an der Uni qualifizieren ihn wenig für das, was er für seinen Brötchenerwerb leisten muss: In vier Häusern Mieten eintreiben, sich mit Hausmeister Gaylord um Reparaturen kümmern – und nicht zuletzt sich die schier endlosen Klagen und Vorwürfe der Mieter anhören.

Im Herbst 2012 erschien The Tenants of Moonbloom, wie der Roman im Original heißt, erstmals in deutscher Übersetzung. Der Name Edward Lewis Wallant ist hierzulande kein so schillernder wie etwa Philip Roth, Bernard Malamud oder Saul Bellow. In den USA selbst geriet der jüdische Autor, der mit 36 Jahren viel zu früh an einem Aneurysma starb, beinahe in Vergessenheit. Eine amerikanische Neuausgabe des 1963 veröffentlichten Buchs erschien erst im Jahre 2003, und deutsche Leser mussten gar ein halbes Jahrhundert warten, um den Roman in ihrer Muttersprache lesen zu können. Die Veröffentlichung zweier seiner vier Romane hat Wallant, der mit 29 Jahren professionell zu schreiben begann, nicht mehr erlebt.

Im posthum erschienenen Mr Moonbloom trifft die verhuschte Hauptfigur in zumeist schäbigen Mietwohnungen auf ein Panoptikum einer forciert zusammengewürfelten Miniaturgesellschaft: Diejenigen, die sich wie die das ältere, einander entfremdete Ehepaar Jacoby Bett und Tisch teilen, sind dabei nicht weniger neurotisch als die Alleinstehenden. Moonbloom erlebt auf seinen regelmäßigen Rundgängen verhohlenen und offenen Antisemitismus, die Auswüchse psychosomatischer und eingebildeter Krankheiten und missverstandener oder übertriebener Liebe. Und er begegnet gescheiterten Existenzen mit einem Zuviel an Genialität. Zu den Menschen, die Moonbloom ihre Tür und (unaufgefordert) ihr Herz öffnen, gehört zum Beispiel der schwarze, schwule Schriftsteller Paxton: Seine Worte erinnern nicht wenig an den Poeten Allen Ginsberg, den Gründervater der Beat-Generation. Beat hatte Anfang der Sechziger seine Blütezeit zwar hinter sich, doch sowohl das Jazzmusiker-Gespann Sidone und Katz als auch Englischlehrer Wade Johnson lassen sich von ihm noch den Takt vorgeben. Ähnlich nüchtern und zynisch wie Johnson sind auch die meisten anderen Bewohner. Rettungslos weltvergessen ist nur Karloff, der uralte Hüne, der Moonblooms Vordringen in seinen Messie-Haushalt mit einem lakonischen „Gej in die erd!“ quittiert.

In seiner Form, dem Querschnitt durch das Innenleben eines gewöhnlichen Wohnhauses erinnert Mr Moonbloom stark an Georges Perecs La vie mode d’emploi – nur ist der Autor hier nicht an einer Inventur von Objekten, sondern von Gefühlen und Schicksalen interessiert. Hinter jeder Tür verbirgt sich mit jeder neuen Lebensgeschichte ein eigener potenzieller Roman. Dass Mieteintreiber Norman die persönlichen Nöte an sich abprallen lässt, ist zunächst Selbstschutz. Wallants Protagonist ist nämlich kein gewissenloser Immobilienhai, sondern ein typischer Anti-Held: ein dünnes Hemd in übergroßem Mantel; naiv, bemitleidenswert und vollends unfähig, seine eigenen Geschicke zu leiten. Doch so karikaturesk er auch anmutet – Mr Moonbloom ist keine überzeichnete Witzfigur, die keine Identifikation zulässt. Denn die Wandlung, die sich in ihm vollzieht, ist hier das eigentliche Großereignis – die Tragödien im Roman bleiben Randereignisse, die in erster Linie dazu beitragen, Normans Metamorphose in Szene zu setzen.

Diese wird – ganz profan – dadurch in Gang gesetzt, dass Norman den Reizen der so sinnlichen wie kühlen Sheryl erliegt. Auf einen Schlag zerbricht seine „Eierschale, durch die Licht und Geräusche nur gedämpft eindrangen“. Und zum ersten Mal in seiner noch jungen Karriere sieht sich der „Außenseiter von Berufung“ mitten ins Leben gestellt und veranlasst, die Ärmel hochzukrempeln. So sagt er am Ende: „Aus meiner jetzigen Perspektive scheint mir mein früheres Leben das verrückte zu sein.“ Schuld daran sind die Leute, zu denen er sich bislang in ironischer Distanz gehalten hat. Wenn er erkennt, dass allein die Selbstinitiative ihn und seine Schützlinge vor größerem Schaden bewahren kann, dann lässt ihn der Erzähler das mit arg aufgetragen dramatischer Geste in Taten umsetzen: Das Einreißen von Wänden wird so zum symbolischen Moment. Moonblooms emotionales Erwachen kommt so plötzlich, dass er angesichts der vielen Tragödien in seinem Umfeld nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll. „Sie schütten mir Ihr Herz aus, aber ich will diese ganzen Intimitäten doch gar nicht wissen. Ich bin der Verwalter, ich sammle die Mieten ein“, sagt er. Doch da hat er bereits die unsichtbare Grenze zu seiner Umwelt überschritten, seine Ausgaben- und Arbeitsliste erstellt und sein Schicksal irreversibel mit jenem seiner „Schützlinge“, den ewig fordernden Mietern verwoben.

Diese Wandlung vom ziellosen Tagträumer zum leicht manischen Zupackertyp hat zweifellos Unterhaltungswert. Indes hat der Leser mit verqueren bildhaften Vergleichen und Metaphern zu kämpfen, von denen der Schriftsteller inflationären Gebrauch macht: Von „Lichtbögen zerquälten Lächelns“ liest man da, und vom Jungen „Bobby, wie eine Perle im Schweinekolben elterlicher Anwesenheit“. Der Autor bedient sich einer gewöhnungsbedürftigen Bildsprache, die zwischen treffsicher-poetisch und linkisch schwankt. Das ist irgendwann nicht mehr nur eigenwillig, sondern schlichtweg unverständlich – was auch an der Übersetzung liegen mag, die trotz wackerer Versuche Wallants blumige Ausdrucksweise kaum im Deutschen wiedergeben kann, ohne an diesen metaphorischen Widerhaken hängen zu bleiben.

Dem Buch hätte insgesamt ein wenig mehr Subtilität, ein Tick mehr zurückgenommener Ernst nicht geschadet. Trotz alledem: Edward Lewis Wallant ist zweifellos ein scharfer Beobachter seiner Realität. Und er weiß, wovon er schreibt. Zu Recherchezwecken hatte sich der junge Autor selbst in einem der heruntergekommenen Miethäuser in der City einquartiert, wie er sie in seinem Roman so schonunglos plastisch beschreibt. Die allzu spleenigen Charaktere mögen wenig glaubhaft dargestellt sein – die damaligen Lebensverhältnisse im Herzen von Lower Manhattan sind es nicht. Dieser Schuss magischer Realismus ist es wohl, der den Anstoß gegeben hat, den Roman nach all den Jahren in der Versenkung noch einmal ans Tageslicht zu holen.

Edward Lewis Wallant: Mr Moonbloom

Berlin Verlag

Berlin 2012

320 Seiten – 22,90 Euro


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.