Familienspuren im Dazwischen

Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2013, 1. Platz: Rezension über eine Lesung mit der ehemaligen Grünen-Politikerin Jutta Schwerin, die ihre Autobiografie „Ricardas Tochter“ vorgestellt hat

Ein bequemer Sessel, Tisch und Leselampe stehen bereit für Jutta Schwerins Lesung aus ihrem Buch „Ricardas Tochter. Leben zwischen Deutschland und Israel“. Doch Jutta liest im Stehen, damit „alle mich verstehen können“ im übervollen Raum des Casablanca e.V. in Leipzig-Lindenau. Das Mikrophon versagt kurz vor der Veranstaltung den Dienst – dennoch: Jutta Schwerins Bericht lässt das Auditorium verstummen. Kaum ein Husten, Stühleknarren oder Gläserklirren stört die Stimme der Frau, die ihre eigene Geschichte und notwenig damit zusammenhängend die Geschichte ihrer Mutter Ricarda erzählt. Die Moderatorin des Abends versucht behutsam, die ältere Dame in den Abend zu führen, gibt eine kurzen, respektvollen Einblick in Jutta Schwerins Leben als Ausgangspunkt der Lesung. Jutta ist das zu zaghaft, zu höflich und zu förmlich. Sie bricht kurzerhand mit Schicklichkeit und Generationsgrenzen, schlüpft aus ihren Schuhen, stellt sich hin und liest.

Sie beginnt ihre Lesung im Jahr 1932, als ihre Eltern Heinz und Ricarda, beide Kommunisten, er Jude, unter Mitwirkung Mies van der Rohes und Wassily Kandinskys ihr Studium am Bauhaus in Dessau abbrechen müssen. Nüchtern wirkt die Schilderung der Odyssee ihrer Eltern von Dessau über Frankfurt am Main nach Prag und letztlich nach Tel Aviv im Jahre 1935: „Heinz und Ricarda waren keine Zionisten, sie wollten eigentlich nicht nach Palästina. Einen anderen Ort hatten sie aber nicht.“ Schon in diesen frühen Stationen des Buches deutet sich die intensive und konfliktreiche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter Ricarda an: feingliedrig beschreibt Jutta die Gefühle ihrer Mutter bei der Ankunft in Tel Aviv, bei ihrer Suche nach einem Ort, an dem es sich besser Leben lässt als in der heißen Großstadt, den Stolz Ricardas auf die Werkstatt für Holzspielzeug, die die Eltern zusammen in Jerusalem eröffnen und ihren Mut und die Kraft, als sie nach Heinz Tod 1948 ihre fünfköpfige Familie allein versorgen muss. Ricarda will sich Zeit ihres Lebens nicht integrieren, lernt kein hebräisch und erzieht ihre Kinder antinational, antimilitärisch und atheistisch. Früh deutet sich bei Jutta, die 1941 in Jerusalem geboren ist, ihre starke und eigensinnige Persönlichkeit an. Den Wechsel vom Handarbeits- zum Werkunterricht boxt sie auf eigene Faust und mit der Unterstützung ihrer Mutter durch. Erstaunte und bewundernde Lacher im Publikum, als Jutta schildert, wie sie damals als 17-jährige Premierminister David Ben-Gurion höchstpersönlich trifft, da sie den Militärdienst verweigern will. Wie sie sich mit Briefen an Politiker wendet, deren politische Einstellung sie falsch findet. Wie sie entscheidet, in ein Kibbuz zu gehen. Wie sie entscheidet, in Deutschland zu leben.

Jutta Schwerin setzt sich kurz, nimmt einen Schluck Wasser. Als Zuhörende will man in diesem Moment eigentlich nur eines: mehr erfahren. Jutta kehrt in ihre Leseposition zurück: „1960 verließ ich Israel.“ Der zweite Teil des Buches spielt in Deutschland, wo die junge Frau Architektur studiert und ihre politischen Aktivitäten als Mitglied des SDS fortsetzt. Die Moderatorin übernimmt an dieser Stelle und liest die nächste Textpassage. Das ist fast erleichternd, die neue Stimme ist weniger nüchtern, weniger abgeklärt. Inhaltlich erleichtert nichts. Jutta lebt erst in Stuttgart, dann in Ulm, in einem Land, in das sie „unüberlegt, fast aus Versehen“ gegangen ist. In einem Land, in dem sich die Zimmersuche als schwierig erweist: In einem der angebotenen Zimmer hängt das Bild eines Kriegsgefallenen mit Hakenkreuz und Reichsadler. Wir Zuhörenden schämen uns in Grund und Boden. Bei einem anderen Angebot fragte die Vermieterin, ob sie denn „Halbjüdin“ sei? „Ich bin nichts Halbes. Ich bin jüdisch und nicht-jüdisch zugleich.“ Sie sagt auch diese Wohnung ab.

Jutta sieht auf, zu uns ins Publikum, schüttelt und lockert die Schultern, rückt die Brille zurecht und sagt, als ihr Blick zurück in den Text geht: „Ich blieb bei der Politik.“ Sie gründetin den 1970ern einen Kinderladen und eine Frauenzentrum mit, wird Stadträtin, dann Bundestagsabgeordnete für die Grünen. Ende der 1980er wird sie berühmt durch ihren Zwischenruf bei der Rede zum 50jährigen Gedenken an die Reichspogromnacht, außerdem durch ihren Widerstand gegen die damalige Schwulen- und Lesbenpolitik. In einem Brief an den Bundestagspräsidenten schreibt sie: „Wenn die Bezeichnungen ’schwul‘ und ‚Lesbe‘ für den Bundestag nicht gut genug sind, wie ungemein schlecht muss es dann erst sein, als Schwuler oder Lesbe zu leben.“

Jutta Schwerin lässt uns Zuhörende den Spuren einer Familie folgen, die im Dazwischen – zwischen dem erst lebensgefährlichen und dann schwarzbraunsumpfigen Deutschland und dem fremden, vor allem für Frauen alltagsharten Israel – einen Platz zum Leben suchen. Jutta bleibt in Deutschland, engagiert sich weiterhin politisch und feministisch und arbeitet bis 2008 als Architektin in Berlin.

In der Lesung begegnen uns viele Personen, die Jutta Schwerin bewundert. Wir erfahren eine in dieser kurzen Zeit kaum überschaubare Fülle an politischen und privaten Ereignissen aus dem Leben der nun grauhaarigen Frau. Auf eine Person kommt Jutta aber immer wieder zurück, auch am Ende der Lesung: Ricarda, ihre Mutter. Eine „unglückliche Liebesbeziehung“ habe Mutter und Tochter das ganze Leben verbunden, so Jutta. Auf der einen Seite steht die große Bewunderung für Ricarda, die selbstbestimmt und mutig für sich und ihre Kinder sorgte. Auf der anderen Seite steht das große Unverständnis zwischen beiden Frauen, zum Beispiel, als Ricarda Juttas Scheidung von Ulrich Oesterle und ihre Entscheidung, fortan mit einer Frau zu leben, kommentiert: Eine „kaputte Familie“ sei etwas ganz schlimmes.

Jutta Schwerin schließt das Buch und setzt sich. Sie antwortet auf die nicht enden wollende Frageabfolge aus dem Publikum. Signiert Bücher. Beantwortet mehr Fragen. Als sie dann mit dem Taxi weggefahren ist, erscheint der menschenvolle Raum sehr leer.

Lesung mit Jutta Schwerin

aus ihrem Buch „Ricardas Tochter. Leben zwischen Deutschland und Israel“

Eine Veranstaltung des queer-feministischen Abends joseph_ine in Kooperation mit „outside

the box – Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik“ und der Buchhandlung drift.

21. November 2012, Bäckerei, Josephstraße 12, Leipzig


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