Vierzig Meter Maschinenseiten

Wer bei „On the Road“ nur an Beatniks denkt, vergisst Lampedusa

Jack hatte den Roman zum dritten Mal verworfen. Eine Weile hing er in der Luft, Schreibblockade, Verzweiflung, Mittellosigkeit, kaputte Zeit. Dann zog er mit seiner frisch angetrauten Frau zu seiner Mutter. Seine Mutter schaffte in der Fabrik das Geld ran, seine Frau wusch und kochte. Jack saß in seinem Zimmer, warf Benzos ein (damals legales Aufputschmittel) und schrieb dieses Buch. Er war überzeugt davon, dass das Einspannen neuer Seiten den Fluss seiner Gedanken unterbrechen, stören, aufhalten würde; also hatte er vorher aus Schreibmaschinenblättern eine 40 Meter lange Bahn zusammengeklebt. Er hackte sie durch. An den Wänden seines Zimmers hingen fünf Hemden zum Trocknen. Hatte er eins durchgeschwitzt, streifte er es ab, hängte es zu den anderen und zog das trockenste an. Dann erfolgte hin und wieder der unvermeidliche Zusammenbruch und seine Frau kam mal dazu, die Hemden zu waschen. Nach vier Wochen hatte er endlich die Marke erreicht: 40 m, dreihundert Seiten, ein Jahrhundertroman, Funke eines Flächenbrandes.

Stolz präsentierte er die fertige Rolle seinen Freunden. Bis zur Veröffentlichung bearbeitete er sie noch gering, doch sie war im Grunde das, was uns heute als Buch vorliegt.

Jack war ein kleiner Spießer. Er nannte Menschen Neger und Japser. Er war verknallt in einen Kerl und konnte es sich nie eingestehen. Er war einer dieser Zugezogenen, Überangepassten: Er war amerikanischer als die Amerikaner.

Das im Sinn, was bleibt?

Der gewaltigste, packendste, düsterste weiße Blues, den mir je einer gesungen hat. Mann: Diese Liebesgeschichte mit Terry, der alleinerziehenden Mexikanerin; die Einsamkeit von San Francisco Ende der 40er Jahre! Und dann diese Geschichte, verloren in Denver: da stehen zwei Verse, ganz für sich allein und die Zeit bleibt stehen:

Down in Denver, down in Denver
All I did was die

[Kaputt in Denver, kaputt in Denver
Alles, was ich tat, war sterben]

Und wie runter muss ein Mann sein, der Neger sagt und Japser und der seine ganze „weiße“ Welt wegschmeißen würde, könnte er mit jenen tauschen; denn er ist so enttäuscht, so verbittert, so durch und runter und raus; die ganze „weiße“ Welt mit ihren heiligen Werten: Rechtschaffenheit, Beherrschtheit, Nüchternheit: alles für’n Arsch.

Und dann in dieser Nacht, dieser schwarzen, lehrreichen Nacht, über allem, wie ein riesiger fallender Stern, eine blendende Supernova, dieser Mensch: Neal Cassady (alias Dean Moriarty), geschlagen mit einem noch tieferen, schlimmeren Blues:

„And yet – and yet, I’ve never felt better and finer and happier with the world and to see little lovely children playing in the sun and I’m glad to see you, my fine gone wonderful Sal, and I know, I know everything will be all right.“

[Und doch – und doch, ich habe mich nie besser und prächtiger und glücklicher gefühlt mit dieser Welt und kleine, liebenswerte Kinder in der Sonne spielen zu sehen, und ich bin froh dich zu sehen, mein prächtiger, durchgeknallter, wunderbarer Sal (alias J. Kerouac), und ich weiß, ich weiß, alles wird gut.]

Neal Cassady, dieser Prototyp des Überaktiven, dieser ewige Pechvogel und Optimist: Jacks große Liebe. Und Jack hat ihn ausgenutzt und hat es bereut und konnte doch keinen Dreier mit Neal und dessen damaliger Frau schieben. Nicht mal das; und dann diese ganzen Bücher: Neal hier, Neal dort; Neal alias Dean alias Cody. Der hyperaktive Goofy hat Minnie gefickt und Mickey hat seine Chance verpasst.

Dieses Buch ist der Grabstein jener Freundschaft gewesen.

Was für ein Elend, welche Schönheit, Traurigkeit und menschliche Komödie: Es gibt so viel Hoffnung und Glauben in diesem Buch, du wendest die Seiten, das Leben ändert sich und alles geht schief. Es war von Anfang an irgendwie klar, doch man wollte es nicht glauben, konnte es nicht glauben; es war zu hart.

Warum das heute noch lesen?

Bei mir zu Hause liegt eine Broschüre vom Bon Courage e.V. über die Situation Asylsuchender im Kreis Leipziger Land.
Wusstest du, dass laut Verwaltungsvorschrift diesen Menschen 6 m² Platz zustehen, was aber eher unterschritten wird?
Wusstest du, dass sie Einkaufsgutscheine im Wert von festen Beträgen (10 €/20 €) erhalten, auf die sie kein Wechselgeld ausgezahlt bekommen; dass sie 0,99 € pro Brötchen bezahlen?
Wusstest du, dass eine Geburtsurkunde für ein hier geborenes Kind mit diesen ganzen Überprüfungen 500 € kosten kann?
Wusstest du, dass die Leute keine ordentliche ärztliche Versorgung bekommen, sondern Achselzucken und sarkastische Bemerkungen?
Wusstest du, dass zehnjährige Kinder mit mehreren fremden Alkoholikern auf einem Zimmer wohnen und mal eben nachts um zwei Uhr geweckt und abgeschoben werden?
Und erst die Kinder der „Illegalen“, die niemand schreien oder lachen hören darf?

Weißt du was: Da hast du deinen Neal Cassady hunderte Mal, tausende Mal. Und wenn die Flüchtlinge bankrotter Staaten auf Grund der Drittstaatenregelung der EU alle schön in Italien, Griechenland, Spanien, Bulgarien, Polen usw. festsitzen und dort auf Massen zukunftsberaubter Arbeitsloser treffen, dann hast du Millionen Cassadys.

Noch Fragen?

Neal Cassadys Geschichte steht in dem Buch On the Road (dt. Unterwegs) von Jack Kerouac; darum, lies es! Es wird nichts ändern an dem großen Scheißhaufen, aber vielleicht was in dir.

Jack Kerouac: Unterwegs

deutsche Erstausgabe 1959, englische Originalausgabe 1957

erhältlich in verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.