„Lulu“: Vom Fummeln, Wichsen und Vögeln im Leipziger Schauspielhaus
Die graukahle Bühne (Irina Schicketanz) leert sich langsam, während die acht Männer geschlossen und schweigend durch die vier Fahrstuhltüren – schöner Einfall – treten und Lulu wieder in ihr Gefängnis zurück klettert. Mit blutverschmiertem Gesicht und Schritt blickt sie aus ihrem gläsernen Käfig, der sich über die Vorstellungsdauer von etwa zwei Stunden im Leipziger Schauspielhaus stätig mit Wasser gefüllt hat. Sie steht da, gebraucht, verbraucht, missbraucht. Versucht, sich in dem mittlerweile von Schmutz und Unrat verdreckten Wasser von ihrem eigenen Blute rein zu waschen. Die Stimme von Jack the Ripper aus dem Off erklingt und Lulu, Nelly, Eva, die Urgestalt der Weiblichkeit, oder welche Namen man ihr auch geben mag, stirbt.
Dies tut sie in der Inszenierung Lulu von Nuran David Calis im Vergleich zum Rest des Stücks ganz leise. Flehentlich bittet sie ihren zukünftigen Mörder, er möge doch endlich zu ihr kommen. Dann ist es still und der leblose Körper von Lulu (Runa Pernoda Schaefer) treibt in der trüben Brühe, durch die all ihre acht Schauspielkollegen, Lulus Männer, Gespielen, die ihr Verfallenen im Laufe des Stückes gewatet sind.
Das Ende dieses Theaterabends in Leipzig wird von dem einen oder anderen Zuschauer bereits erwartet. Einige verließen zwischendurch die Vorstellung. Frank Wedekinds Stück, welches als sein Hauptwerk gilt: Lulu die Monstertragödie in fünf Aufzügen erregte bereits im 19. Jahrhundert Aufsehen und sorgte für einen Skandal. Lulu brachte seinem Autor einen langwierigen Prozess wegen moralischer Anrüchigkeit ein. Es geht dabei um ein junges Straßenmädchen, dem Urtier der Weiblichkeit, ewig lockend, von allen Männern begehrt. Im ersten Teil der Tragödie macht sie durch dieses Begehren Karriere, um im zweiten Teil als Prostituierte Jack the Ripper als Freier nicht zu überleben.
Enrico Lübbe brachte dieses Stück zusammen mit seinem Ensemble und Regie-/Dramaturgieteam aus Chemnitz mit. Die Wiederaufnahme steht unter dem fettgedruckten Wort „Premiere“. In Chemnitz fragte man sich schon bei der Premiere am 8. Juni, wie denn die Hartmann-geschundenen und starken Tobak gewöhnten Leipziger reagieren werden und ob diese Inszenierung eine Antwort auf die Frage nach der Theaterprovinz sei, die man Intendant Lübbe vorwarf. Als provinzial ließe sich diese Inszenierung wohl nicht bezeichnen und das, was den Leipzigern hier geboten wurde, war sehr wohl starker Tobak. Leider verpuffte die Wirkung des Gesehenen schnell und schon nach einer Stunde wollte man mit Blicken auf die Uhr der dauerhaften Provokation, den sexuellen Obsessionen und Fetischen entfliehen.
Ein Mann nach den anderen lässt die Hosen fallen und balzt in Sockenhaltern und schwarzen Unterhosen uniformiert um das Teufelsweib herum. Immer wieder erfolgt der Griff in die Hose, ein durchgehendes Abgewichse. Einmal weniger hätte es auch getan. So schockiert es auch niemanden mehr, wenn aus der Wand Gummi-Penissen ragen, die Lulu mechanisch, mit cremefeuchten Händen massiert. Danach werden sie von ihrem dritten Ehemann Dr. Schön (Hartmut Neuber) in den Mund genommen, dem der Ekel davor sehr deutlich zu Gesicht steht. Es wundert auch nicht, dass sich die Männer bald in Lederweste und Sadomaso-Maske werfen, selbst Tackernadeln jagt man sich in die Genitalien. Das alles um ein skurriles, leider oft hektisch wirkendes Finale einzuleiten. Die Büchse der Pandora wurde geöffnet und für Zuschauer, denen das Stück noch nicht bekannt war, wurde zusätzlich ein Schild mit der Aufschrift hochgehalten. Schade ist, dass neben all den Provokationen zu wenig gespielt wurde. Die Darsteller blieben oft blass und kratzten nur an den Oberflächen ihrer Rollen. Von den acht Männern ist keiner nennenswert hervorzuheben, Runa Pernoda Schaefer lieferte eine gute Vorstellung, die in den Monologen etwas schwächelte. Sehr schade war, dass mehrere Sätze und damit ganze Teile von Dialogen nicht zu verstehen waren. War einem das Stück bereits, bekannt befand man klar im Vorteil.
Wie von Regisseur Calis im Programmhaft beschrieben, leben wir in einer Gesellschaft, in der es zum guten Ton gehört, Bunga-Bunga-Sexpartys zu veranstalten und in der wir immer und überall von Erotik umgeben sind. Vielleicht wäre es an der Zeit gewesen, endlich einmal eine Lulu zu zeigen, in der nicht orgastisch gefummelt, hektisch gegrabscht, panisch gemordet und rabiat gevögelt wird.
Lulu ist ein schwieriges Stück, das sich ziert und aufbläht, genau wie die Moralvorstellungen, gegen die es so rabiat versucht vorzugehen. Aber unverwüstlich ist es auch und so schaffte Nuran David Calis eine weitere Variante des heut immer noch sehr aktuellen Wedekind-Stoffes, die sich sehen lassen kann. Ob man es mag oder nicht, liegt im Auge des Betrachters.
Lulu
Bearbeitung: Nuran David Calis und Esther Holland-Merten
Regie: Nuran David Calis
Mit: Wenzel Banneyer, Matthias Hummitzsch, Tilo Krügel, Dirk Lange, Hartmut Neuber, Michael Pempelforth, Runa Pernoda Schaefer, Sebastian Tessenow, Niklas Wetzel
Premiere: 11. Oktober 2013, Schauspielhaus/Große Bühne
„Vielleicht wäre es an der Zeit gewesen, endlich einmal eine Lulu zu zeigen, in der nicht orgastisch gefummelt, hektisch gegrabscht, panisch gemordet und rabiat gevögelt wird.“
JAJAJA! BITTE! Das wäre mal was, stimme ich dir voll und ganz zu! Das würde Wedekind ganz sicher verkraften.