Kristjan Järvi Superstar?

Seit knapp anderthalb Jahren steht er am Pult des MDR Sinfonieorchesters. Mit „Desert Music“ beweist der gebürtige Este im Gewandhaus: Er ist wirklich angekommen

Chefdirigent Kristjan Järvi (Foto: kristjanjarvi.com)

Selten hat ein neuer Chefdirigent das Gesicht eines Klangkörpers so verändert. Seit September 2012 steht der agile Kristjan Järvi am Pult des MDR Klangkörpers. Vergessen scheint die ewige Diskussion um die Profilierung des Orchesters, um die ewige Frage: Wo steht das MDR-Sinfonieorchester, neben, vor, hinter oder gar im Schatten des ewig gelobten Gewandhausorchesters.

Wo Järvi draufsteht ist auch Järvi drin, das konnte man am heutigen Abend wieder erleben. Das typische dieses in Estland geborenen und in den USA aufgewachsenen Musikers liegt nicht in einer bestimmten Programmatik oder Stilrichtung. Järvis Markenzeichen ist gerade seine Offenheit. Persönlich pflegt er einen charismatisch-jugendlichen Stil, das Marketing des MDR hat sich (sicher) willkommen darauf eingelassen. Man druckt, mailt und postet das sympathische Gesicht des Chefdirigenten bei jeder Gelegenheit.

Desert Music – ein Programm mit drei Stücken von drei zeitgenössischen Komponisten. Es wäre eine Recherche wert, ob und wenn ja, wann es so etwas im großen Konzertsaal des Gewandhauses je gegeben hat. Man darf vermuten, dass man einige Jahrzehnte zurück gehen müsste in Zeiten, wo es die Trennung zwischen historischer und Neuer Musik noch gar nicht gab und man schlichtweg nur Musik von lebenden Komponisten aufgeführt hat. Desert Music präsentiert ausschließlich Musik von angelsächsischen Komponisten und ausschließlich Musik aus dem Bereich der Minimal Music. Die exakte Charakterisierung der Minimal Music ist ob der Vielseitigkeit schwierig. Ein Schwerpunkt liegt im erweiterten Zeit- und Raumbegriff. Permanente musikalische Kontinuums sprengen herkömmliche europäische Musikbegriffe von linearen Entwicklungen, von kausalen Zusammenhängen.

Mit Desert chorus von John Adams (geb. 1947) aus der Oper The Death of Klinghoffer startet der Abend. Ein nur cirka fünfminütiges Stück. Adams hat keine Scheu, den Kanon der Minimal Music zu erweitern. Emotionalität wird geschickt durch im Hintergrund liegende Melodiebögen aufgebaut. Der MDR-Chor ist durch James Wood hervorragend präpariert. Ein erstes repetitives Flimmern und damit ein ersten Vorgeschmack auf den Hauptakt dieses Abends – Steve Reichs The Desert Music. Doch zuvor eines der populärsten Stücke des 20. Jahrhunderts. James MacMillans (geb. 1951) Perkussionskonzert Veni, Veni, Emanuel wurde seit der Uraufführung 1992 mehr als 400 Mal aufgeführt. Die einsätzige Komposition basiert auf dem gleichnamigen Adventschoral.

Der Kontrast zu Desert Chorus konnte nicht größer sein. Fanfarenartig eröffnet das Stück mit allen Perkussionsinstrumenten. Das Stück arbeitet mit einer eher fragilen Struktur, in variierenden Rhythmen und wechselnden Farben agieren Solist und Orchester Hand in Hand. Zum Mittelteil wird der Kanon durch nahezu jazzige Elemente erweitert. Colin Currie, der Solist des Abends, ist in seinem Element. Behände wechselt er die am Bühnenrand verteilten Perkussionsgruppen, die Expressivität der Marimba gegen das ruhige Streichen des Orchesters. Am Ende rocken die von Currie präzise bearbeiteten Trommeln und Pauken, in meditativen Glockenklang schwingt das Werk dann ruhig aus. Ein begeistertes Publikum fordert eine Zugabe vom Solisten und bekommt sie auch, Kristjan Järvi steht schmunzelnd und Hüfte schwingend daneben.

Die Pause ist heute länger, da die Bühne für Steve Reichs (geb. 1961) Desert Music präpariert werden muss. Das schöne Zitat des Architekten der neuen Sachlichkeit Hans Poelzig „Wir bauen einfach – koste es, was es wolle“ könnte man auch auf Reichs Musik anwenden. Was Minimal Music heißt, bedeutet bei Desert Music einen gigantischen Klangapparat: vielfach besetzte Holzbläser, eine Standard Bläserbesetzung, je zwei Xylophone, Marimbas und Vibraphone, vier Pianisten an zwei Klavieren beziehungsweise drei Synthesizern. Die große Streicherbesetzung ist in drei Gruppen um die zentral aufgestellten Xylophone, Marimbas und Vibraphone platziert. Da bleibt selbst auf der großen Bühne des Großen Saals des Gewandhauses kaum noch Platz für den elektronisch verstärkten MDR Chorapparat.

Vom ersten Ton an wird man in dieses grandiose Werk hineingezogen. Ein riesiger Klangteppich schwingt ohne den für europäische Musik typischen Spannungsaufbau. Die Chorpartien überlagern sich so mit dem Instrumentalklang, dass ein dichtes musikalisches Kontinuum entsteht. Reich setzt wenige motivische Pattern, die der schwingenden Struktur Halt geben und den Zuhörer immer wieder kurz aufhorchen lassen aus der unendlichen Weite dieses Stückes. Bizarre Kontraste entstehen, wenn lichte Variationen von dunklen und drückenden Flächen überdeckt werden. Minimale Phasen- und Akzentverschiebungen generieren einen modulierenden Orchesterklang, der Giacintos Scelsi Experimente mit der Ondioline, ein Vorläufer des Synthesizers, erinnert. Inhaltlich beschäftigt sich Desert Music mit dem Outback Amerikas, diesem endlosem Land von New Mexiko und Nevada bis weit über die Rocky Mountains. In dieser Wüste haben Amerikaner ihren hochtechnologisierten Militärapparat entwickelt. Um die Auswirkungen des atomaren Zeitalters auf unser Denken und Handeln geht es Steve Reich. Man muss das aber nicht wissen, wenn man Desert Music zum ersten Mal hört. Die monumentale und physische Erfahrung des Stückes kann man auch ganz abstrakt erleben.

Mit diesem Konzert ist dem MDR und Kristjan Järvi Erstaunliches gelungen: Neue Musik im normalen Samstagabend-Format zu präsentieren, ein „ganz normales“ Publikum, welches die Erweiterung der Standartprogrammatik begeistert aufnimmt und als Zugabe noch ein Stück arabesker Musik obendrauf bekommt. Kristjan Järvi ist wirklich angekommen beim MDR.

Desert Music

MDR Sinfonieorchester

MDR Rundfunkchor

Perkussionist: Colin Currie

Dirigent: Kristjan Järvi

John Adams: Desert Chorus

James MacMillan: Veni, Veni, Emmanuel

Steve Reich: Desert Music

11. Januar 2014, Gewandhaus


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