Peter Konwitschny blickt in Graz hinter die familiären Strukturen von Leoš Janáčeks „Oper aus dem mährischen Bauernleben“
Niedergetrampelt liegen die zart gelben Krokusse am Boden. Verzweifelt sucht eine junge Frau hinter dem umgestürzten Tisch Schutz vor dem lynchenden Mob der Dorfbewohner, darunter die Gäste ihrer bescheidenen Hochzeitsfeier. Unter dem tauenden Eis des Mühlbaches wurde die Leiche ihres Sohnes entdeckt, heimlich entbunden, da sich ihr einstiger Geliebter, der Halbbruder ihres jetzigen Bräutigams, nicht zu dem Kind bekannte. Erst im letzten Moment offenbart sich ihre Stiefmutter und kann so Schlimmeres verhindern: Aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung hatte sie das Neugeborene unter die Eisschollen geschoben, um der unwissenden Tochter einen Neuanfang zu ermöglichen. Keine Frage, Leoš Janáčeks Oper Jenůfa (1904), mit der ihm ein später Durchbruch als Komponist gelang, wirkt verstörend – und gehört dennoch zu den poetischsten Werken des Musiktheaters überhaupt. An der Oper Graz erlebte Jenůfa jetzt in der Inszenierung von Peter Konwitschny ihre vielumjubelte Premiere. Auch in seiner dreizehnten Produktion an diesem Haus bleibt der Regisseur seiner bedingungslosen wie im besten Sinne naiven Leitfrage treu: der Möglichkeit der Liebe in einer destruktiven sozialen Gemeinschaft.
Lange Zeit nahmen Janáčeks Kompositionen eher ein Schattendasein ein, was sicherlich auch ihrer frühen Rezeption geschuldet ist: Verfälschende Übersetzungen haben ebenso wie klitternde Eingriffe in die Partitur den Blick auf seine Opern verstellt. Allein bei Jenůfa wurde allzu gerne der Untertitel Oper aus dem mährischen Bauernleben missverstanden und die pralle ländliche Idylle auf die Bühne gestellt, in deren Folklore-Ensemble des dritten Aktes ein wenig unvermittelt die Nachricht der familiären Tragödie platzt. Doch Folkloristisches kommt in der Grazer Produktion bestenfalls aus dem Graben. Und auch hier gelingt es Generalmusikdirektor Dirk Kaftan mit dem blendend disponierten Philharmonischen Orchester Graz hinter die der mährischen Volksmusik entlehnten Motive und Janáčeks Sprechmelodien zu blicken. Kaftan setzt auf große Kontraste, gesteht dem Schroffen der Partitur ebenso Raum zu wie den lyrischen, elegischen Passagen. Bei allem deutet sein ziselierendes Dirigat aber im Einklang mit der Inszenierung Jenůfa als feinsinnig beklemmendes Kammerspiel.
Zugegeben, die Frage, warum sich gerade Jenůfa in den letzten Jahren ungebrochener Beliebtheit erfreut, ist nicht ganz unberechtigt. Die »Schande« eines unehelichen Kindes ist in unserer Gesellschaft eher obsolet. Konsequenterweise verzichtet der Regisseur auf eine vordergründige Aktualisierung. Ja selbst die konkrete sozialgeschichtliche Verortung unterbleibt, sieht man einmal davon ab, dass die Kostüme des bewährten Konwitschny-Ausstatters Johannes Leiacker leise Assoziationen zur Uraufführungszeit wecken. Das Produktionsteam setzt vielmehr auf ein probates Mittel, das einige herausragende Konwitschny-Inszenierungen wie beispielsweise die Leipziger Produktionen La Boheme und Eugen Onegin oder die Grazer Aida und La Traviata kennzeichnet: eine radikale Reduktion auf das Allernötigste. Ein Tisch, ein paar Stühle auf offener Bühne, im Hintergrund ein Bett auf der schräg ansteigenden Drehbühne – mehr bedarf es nicht, um den Ort des Geschehens zu umreißen. Der zeitliche Verlauf wird durch die sich wandelnde Bodenvegetation – spätsommerlich versengter Rasen, eine Schneedecke, das erste Frühlingsgrün – symbolisiert.
Der erste Blick auf die Familie Buryja mag vielleicht ein wenig anheimelnd wirken: Zusammen mit der Großmutter wartet Jenůfa kartoffelschälend darauf, dass ihr geliebter Cousin Steva von der Musterung heimkehrt. Doch Konwitschny gelingt es bereits hier, die individuellen Prädispositionen herauszuarbeiten, durch die die Handelnden eingeschränkt werden. Es bedürfte gar nicht des verdorrten Rosmarin-Strauchs, den Jenůfa in der Hoffnung auf eine glückliche Ehe hegt. Dass ihr dieses nicht vergönnt sein wird, lässt sich bereits vor dem ersten Auftritt des betrunkenen Steva erahnen. Und man mag sich fragen, welchen Gefallen sie an diesem windigen Galan findet. Vielleicht ist es ja gerade das Unbändige, mit dem er die engen Konventionen ein wenig aufbricht – im Gegensatz zum phlegmatischen Laca. Wie sehr dieses Bedürfnis nachzuvollziehen ist, wird wohl am Ehesten an der Küsterin deutlich. Verhärmt, da ihr eigenes Begehren enttäuscht wurde, untersagt sie sich jede emotionale Regung. Konsterniert am Rosmarinstrauch zupfend wendet sie dem von Steva angeführten orgiastischen Treiben den Rücken zu (die Mitglieder des auch musikalisch bestens präparierten Chores liefern eine schauspielerische Bravourleistung ab).
Konwitschny erweist sich einmal mehr als Meister einer konsequenten, differenzierten Personenführung, weshalb dem Einblick ins Familiäre auch nichts Privates anhaftet. Die Weite der offenen Bühne täuscht: Den Figuren sind in ihrer individuellen Entfaltung enge Grenzen durch vererbte Verhaltensmuster gesetzt. Bereits die alte Buryja, eine Meisterin im Verdrängen und Beschwichtigen, hat diese an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. In der Moralpredigt der Küsterin muss sie aber doch ihr eigenes Schicksal wiedererkennen, ohne daraus Konsequenzen ziehen zu können. So verwundert es auch nicht, dass sie Lacas eifersüchtigen Angriff auf Jenůfa, bei dem er ihre Wange zerschneidet, nichts entgegensetzen kann. Am Boden liegend bleibt die Verletzte sich selbst überlassen, zu sehr sind die Zusehenden mit sich beschäftigt.
Ein zeitweiliges Ausbrechen aus tradierten Verhaltensweisen wird den Figuren ausgerechnet im zweiten Akt gestattet: Wenn die Küsterin für das Kind, dessen Tod sie als Erlösung eben noch herbeisehnte, kurzzeitig Gefühle entwickelt, ihm erst angewidert, dann verstohlen die Flasche gibt. Doch bleibt dies ein fragiler Augenblick, allzu schnell wird sie wieder von den internalisierten Mechanismen eingeholt. Ihr Berufen auf den Herrgott, in dessen Namen sie zur Kindstötung bereit ist, deutet ins Leere und ist nur mehr eine fragwürdige hohle Konvention, denn moralische Instanz.
Zu einer Szene von beinahe utopischer Kraft gerät hingegen Jenůfas Arie, die Konwitschny als Dialog mit der Solo-Violine inszeniert. Konzertmeisterin Fuyu Iwaki meistert ihren Part auf der Bühne mit schwebender Anmut, ist Ansprechpartnerin und Seelentrösterin, reflektiert mit Jenůfa gemeinsam die Ängste, aber auch die Sehnsüchte und Ideale einer jungen Frau. Für einen Moment scheint alles Einengende vergessen, doch erlischt das Solo und Jenůfas Alter Ego sinkt auf dem Bett zum kalten Block zusammen – der offene Raum wird für die Titelheldin zum inneren Gefängnis.
Es sind einfache, in ihrer Unaufdringlichkeit berückende Bilder, die sich ins Gedächtnis einbrennen. Etwa wenn die Küsterin, einst Ausmaß an Selbstdisziplin, apathisch den Schnaps über das Glas hinwegrinnen lässt. Oder wenn Jenůfa und Laca nach dessen Liebesschwur unter dem Tisch in zärtliche Neckerei verfallen. Der bittere Beigeschmack drängt sich auf, dass beider Annäherung nur unter dem Anschein der kindlichen Unbeschwertheit funktionieren kann. Unsanft werden sie in die Realität zurückgeworfen, als die Küsterin Steva verfluchend sich das Kleid vom Leibe reißt und auf dem Tisch zusammenbricht – auch ohne den herabfallenden Schnee ein frostiges, beklemmendes Schlussbild vor der Pause.
Dass Konwitschnys Jenůfa der erschütternden Thematik zum Trotz ganz und gar unsentimental daherkommt, ist neben der handwerklichen Perfektion der Inszenierung nicht zuletzt einer wohl dosierten bitterbösen Komik zu verdanken, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt. So gibt Stefanie Hierlmeier, die als schnippische Frau des Dorfrichters während der Hochzeitsfeier immer den Finger in die Wunde legt, ein pralles schauspielerisches Kabinettstück. Die Kinder des Dorfes brauchen hingegen mehrere Anläufe, bis alle im Ständchen unmittelbar vor der verdrängten Katastrophe zusammenfinden. Als deren Ausmaß offensichtlich wird, scheint die tobende Meute schnell ihren Sündenbock gefunden zu haben. Erst durch das bedingungslose Geständnis der Küsterin wird deutlich, dass die Frage der Schuld auf vielen Schultern lastet. Betreten zieht die Menge ab, die alte Buryja, Steva und Laca verharren in ratloser Schockstarre, während Jenůfa isoliert zurückbleibt.
Der Vorhang zu und alle Fragen offen? Quälend lang ist die Generalpause vor dem apotheotischen Schlussgesang, bis Jenůfa durch eine schmale Öffnung an die Rampe tritt, um alles Geschehene hinter sich zu lassen. Doch Laca teilt ihr zart, aber entschieden mit, sie auch auf ihren weiteren Weg begleiten zu wollen, auch wenn sein zweifelnder Gesichtsausdruck eine andere Sprache spricht. Und es scheint, als ob Konwitschny, dessen Inszenierungen häufig mit einem utopischen Keim der Hoffnung enden, dem versöhnlichen Finale nicht so recht traut: Statt in die Welt gehen Jenůfa und Laca ins Dorf zurück. Die zertretenen Frühlingsblumen deuten wohl doch nicht auf das neu erstarkende Leben, sondern sind – gemäß des zuvor gezeigten Wechsels der Jahreszeiten – Symbol einer Wiederholung des ewig Gleichen, der allseits bekannten Muster und Strukturen? Glücklicherweise bleibt die Inszenierung hier eine eindeutige Antwort schuldig.
Dass dieses auf das Allernötigste reduzierte Regiekonzept zum Tragen kommt, ist natürlich einem spielfreudigen Solisten-Ensemble zu verdanken. Zwar gibt Taylan Reinhardt den Steva stimmlich anfangs etwas unkultiviert, er findet aber dann doch zu einem gelungenen Rollenporträt. Aleš Briscein spielt dessen Halbbruder Laca glaubhaft als zweifelnden, aber bedingungslos Liebenden und kann neben seinem Heimvorteil, einziger Muttersprachler dieser tschechischen Produktion zu sein, auch mit seinem stets wohlintonierten Tenor bestechen. Das Augenmerk liegt aber ohnehin auf den drei Generationen der Buryja-Frauen, und die sind in der Grazer Produktion ein Glücksgriff. Dunja Vejzović, einst Karajans Kundry, stellt unter Beweis, dass die alte Buryja eine Paraderolle für erfahrene Sängerinnen ist: Keinesfalls nur betuliche Großmutter legt sie hier die beeindruckende Studie eines höchst ambivalenten Charakters ab. Die anspruchsvolle, dramatische Titelrolle gestaltet Ensemblemitglied Gal James mit unangestrengtem, jugendlichem Sopran, der für sich einzunehmen weiß. Ihre Jenůfa ist eine junge, moderne Frau, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren Platz im Leben sucht, was bei James nie aufgesetzt wirkt und selbst in den erschütterndsten Szenen frei von falschem Pathos ist. Nichts weniger als eine Idealbesetzung ist Iris Vermillion in der Partie der Küsterin. Mit ihrem gutturalen Timbre überzeugt sie prononciert in allen Registern, zeigt in den expressivsten Ausbrüchen aber auch Mut zur Hässlichkeit. Es scheint, als habe Vermillion, die 2009 an der Oper Leipzig als Mutter in Konwitschnys Inszenierung von Luigi Nonos Al gran sole beeindruckte, auf die Küsterin nur gewartet, für die sie in ihrer Gestaltung auch Verständnis gewinnen kann: Sie zeigt eine resignierte, später durch Selbstvorwürfe paranoide Frau, die mit vermeintlich bedingungsloser Härte ihre Selbstdisziplin wie eine Maske vor den Verletzungen ihrer Seele trägt.
Mit rund viertelstündigem frenetischen Beifall, gekrönt von Bravo-Salven und rhythmischem Fußgetrampel, dankte das Publikum allen Beteiligten für diese herausragende Produktion, die ihre Konsequenz gerade in einer stillen, unprätentiösen Poesie entfaltete. Bis zum Ende der Spielzeit ist Konwitschnys Jenůfa-Inszenierung noch an der Oper Graz zu erleben, im Herbst 2014 wird sie ans Theater Augsburg gehen.
Jenůfa
Oper in drei Akten
Musikalische Leitung: Dirk Kaftan
Inszenierung: Peter Konwitschny
Oper Graz; Premiere: 29. März 2014
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