Die Vielfalt des Lebens in einem Tanz

Ohad Naharin zeigt den Leipzigern mit „Decadance“, wie modernes Ballett aussieht

Fotos: Bettina Stöß

In der Spielzeit 2013/14 übergibt Chefchoreograf und Ballettdirektor Mario Schröder zeitweise das Zepter über seine Compagnie an Ohad Naharin. Mit dem Israeli kommt ein Choreograf an das hiesige Ballett, der frischen Wind in den klassischen Tanz bringt. Der künstlerische Direktor der renommierten Batsheva Dance Company beschreitet neue Wege, in dem seine Tänzer ihre Schritte und Techniken nicht vor einem Spiegel einstudieren, sondern über ihren Körper erfahren, welcher Teil der Choreografie sitzt und welche Elemente weiter einstudiert werden müssen. Die Tänzer sollen nicht allein der (Tanz-)Technik vertrauen, sondern über ihren Körper eine tiefe Emotionalität und Beweglichkeit und nicht nur reine Perfektion auf die Bühne bringen. Naharin nennt das die Gaga-Methode, eine spezielle Bewegungssprache, und diese verlangt den Tänzern einiges ab. Nicht nur Tanzschritte müssen neu erlernt, sondern ein Gespür entwickelt werden, „dass es im Tanz um die kleinen Gesten geht. Dass es um Leichtigkeit geht, darum, über uns selber schmunzeln zu können.“ (Ohad Naharin)

Am Samstag kann sich das Leipziger Premierenpublikum nun selbst davon überzeugen, ob die Tänzer die Gaga-Methode verinnerlicht haben. Im nahezu ausverkauften Opernhaus zeigt Ohad Naharin mit Decadance eine Werkschau aus seinen Choreografien, die er in seiner langen Karriere auf die Bühne gebracht hat.

Noch während das Publikum sich auf seinen Plätzen einfindet, betritt ein Tänzer die Bühne und vollführt ein kleines Soloprogramm, in dem allerlei Pirouetten, Sprünge und klassische wie moderne Tanzschritte zu erkennen sind. Ob es nun Salsa-Schritte oder Streetdancebewegungen sind, er zieht die Aufmerksamkeit des Publikums gleich auf die Bühne und wird mit warmem Applaus belohnt.

Doch nun zur eigentlichen Aufführung: Das Ensemble betritt in einem Blues-Brothers-Outfit geschlossen die Bühne. Wer nun erwartet, mit sphärischen Klängen à la Schwanensee begrüßt zu werden, hat sich getäuscht. Der Beat ist metallisch, stampfend, aggressiv und die Performance ist extrem körperlich und dennoch elegant.

Im Halbkreis über die Bühne angeordnet und die jüdische Weise Hava Nagila rezitierend, vollführen die Tänzer eine Choreografie, die sich elementar von klassischem Ballett unterscheidet. Immer wieder gehen Elemente des klassischen Balletts eine Symbiose mit zeitgenössischem Tanz oder Cha-Cha-Cha bzw. Tango mit Streetstyle ein. Dies gibt der ganzen Inszenierung eine eigene Dynamik. Danach haben sowohl die Tänzer als auch die Tänzerinnen eigene Auftritte und zeigen ihr Können unter anderem zur Musik von Antonio Vivaldi (Nisi Dominus) oder Sway (Pablo Beltrán Ruiz; gesungen von Dean Martin). Die Bewegungen sind fließend und filigran oder kraftvoll und rhythmisch und manchmal braucht es nicht einmal Musik, sondern nur das Geräusch einer tickenden Uhr und dennoch sind die einzelnen Darbietungen eindrucksvoll.

Das Publikum scheint zunächst ein wenig reserviert. Man hat den Eindruck, dass es nicht so recht weiß, wie es zu dieser Aufführung stehen soll. Als dann auch noch Marushas Somewhere over the Rainbow – ein Technotrack, welcher Anfang der 1990er Jahre auf keinem Rave bzw. in keinem Technoclub fehlen durfte – erklingt, scheint die Stimmung zu kippen. Vielen Zuschauern ist das zu viel des Guten. Doch an diesem Punkt vollzieht Naharin eine spektakuläre Wende. Seine Tänzer holen Zuschauer jeden Alters, jeder Statur und eindeutig Laien, auf die Bühne und vollführen mit ihnen zusammen einige beeindruckende Tänze. Das Publikum jubelt und applaudiert und einige der Zuschauer genießen diesen unvorhergesehenen Auftritt sichtlich.

Das Publikum wird mit der Gute-Laune-Musik von Hawaii Five-O (einer amerikanischen Krimiserie aus den 1970er Jahren mit dem unverwechselbaren Soundtrack von Morton Stevenson) in den beginnenden Fußballabend entlassen und dieses dankt dem Ensemble und dem Choreografen mit frenetischem Jubel und stehenden Ovationen. An dieser Stelle möge der Hinweis erlaubt sein, dass man sich diesen Ballettabend an den folgenden Abenden (sowohl im Mai bzw. Juni) nicht entgehen lassen sollte.

Decadance

Choreografie: Ohad Naharin

Kostüme: Rakefet Levy

Lichtdesign: Avi Yona Bueno (Bambi)

Besetzung: Leipziger Ballett

Oper Leipzig; Premiere: 17. Mai 2014


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