Die freie Szene und ihre Stückegehen voran statt vor die Hunde

Das Bewegungskunstpreisfestival zeigt seinem Publikum noch einmal die diesjährigen Nominierungen

Fotos: Schaubühne Lindenfels

Seit 2005 findet in Leipzig die Verleihung des Bewegungskunstpreises statt. Erklärtes Ziel dieser Auszeichnung ist die Förderung der hiesigen freien Künste und damit die Würdigung von herausragenden Produktionen aus den Bereichen Tanz, Theater und Performance in der laufenden Spielzeit. Auch dieses Jahr hat sich wieder eine fünfköpfige, ehrenamtliche Fachjury, die aus unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen (Kultur-)Lebens stammt, daran gemacht, die vielschichtigsten künstlerischen Arbeiten auszuwählen. Die nominierten Produktionen werden seit dem letzten Jahr im Rahmen eines zweitägigen Festivalmarathons wiederaufgeführt. Das innovativste, das berührendste, das provokativste oder schlicht das beste Stück wird im Rahmen einer Preisverleihung mit dem Hauptpreis bedacht.

Eines dieser Stücke ist Vor den Hunden – Theater aus Europa welches in der Schaubühne Lindenfels, eines der Urgesteine der Leipziger freien Theaterszene, noch einmal zu sehen war. Mit der auf 70 Minuten gekürzten Festival-Edition präsentiert sich eine Theaterproduktion, welche sowohl in ihrer Entstehung als auch in der Aufführung ihresgleichen sucht. Neun aus allen Teilen Europas stammende Autoren widmen sich dem Thema Krieg in Gegenwart und Vergangenheit und fragen nach dem Sinn eben dieser. Für die Umsetzung dieser Gedanken, Assoziationen und Ideen auf der Bühne war Regisseur Frank Heuel verantwortlich. Zusammen mit dem Dramaturgen René Reinhardt und den zahlreichen Schauspielern, die im Vorfeld der Aufführungen gemeinsam eine Art Bootcamp durchlebt haben, währenddessen sie neue schauspielerische und szenische Erfahrungen sammelten, zelebrieren sie eine eigene Art des Gedenkens an Krieg und Frieden in unserer Gegenwart. Ausgangspunkt war das als Volksfest konzipierte Doppeljubiläum zu 200 Jahre Völkerschlacht und 100 Jahre Völkerschlachtdenkmal in Leipzig im letzten Jahr. Die Autoren und Schauspieler machen es sich, im Gegensatz zur Leipziger Tourismus- und Marketingmaschinerie, nicht so einfach und veranstalten kein Volksfest mit Schlachtengetümmel. Das Anliegen dieser Theaterproduktion ist vielmehr das Hinterfragen der kollektiven Erinnerung an die großen Kriege in Europa.

Dies spiegelt sich vor allem im Bühnenbild wieder: Auf Requisiten wird weitestgehend verzichtet, die Schauspieler legen den Fokus auf eine impulsive, zum Teil groteske aber auch leise sinnierende Interaktion ihrer Figuren untereinander und teils auch mit dem Publikum. Dabei geht es weniger um die Entstehung von gewaltsamen, kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern um die Folgen und den Umgang, sprich: Die Erinnerung an vergangene Schlachten und deren Reflexion in der Gegenwart. Die Schauspieler bleiben in ihren Rollen weitestgehend anonym. Mal sind sie Soldat oder letzte Nachfahrin eines russischen Offiziers der noch an der Völkerschlacht teilhatte. Dann wieder sind sie ein Paar, entsprungen aus der prähistorischen Höhle, gefangen in Streitigkeiten um moderne Beziehungsproblematiken (wer hat die Hosen an oder doch die Waffe in der Hand?)

In dieser speziellen Festivalfassung können nur einige ausgewählte Teile der mehr als 300 Seiten Text umfassenden Produktion gezeigt werden. Andreas Vonders Fronttagebuch, das sich mit den Empfindungen und Erfahrungen eines Soldaten während eines Einsatzes auseinandersetzt, ist genauso zu sehen wie das skurrile Der Stein von Alexander Molchanov. Anhand eines unbedeutenden Gegenstandes (des Steins) zeigt er die Vereinnahmung der Erinnerung an die Völkerschlacht sowohl durch die Gesellschaft als auch durch das Individuum. Autopilot thematisiert eindrucksvoll die Technisierung des Krieges, einhergehend mit der Anonymisierung der potentiellen Opfer.

Doch befasst sich das Bewegungskunstpreisfestival in diesem Jahr nicht nur mit dem Thema Krieg und Kriegsgedenken. Im Gegenteil: Alle fünf Preisträger des diesjährigen Bewegungs-kunstpreises sind wieder unbequeme, nicht allein auf Unterhaltung konzipierte Stücke, die ihrem Publikum die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Thematiken abverlangen. So sind die Grenzen bei Corps Étrangers – Fremdkörper zwischen Mensch, Tier und Pflanze, zwischen Objekt und Subjekt fließend. In der Aufführung von Vade mecum – Geh mit mir dagegen stellt sich die Frage nach der Schöpfung. Entsteht sie aus dem Nichts? Ist sie menschengegeben oder gottgewollt? Das Stück Roh – Disputatio de femina bisulca ist die Lebensbeichte einer Frau zwischen Erwartung und Resignation in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Zuletzt geht es um die Einschätzung des noch nicht lange vergangenen, doch schon so entfernt scheinenden 20. Jahrhunderts. Cantos: And America likes me als Performance/Lecture-Fassung, quasi die archivalische Aufarbeitung der Vergangenheit abseits üblicher historischer Quellen.

Alle Produktionen, ob Tanz, Performance oder Theaterstück, sind zu Recht für den Bewegungskunstpreis 2014 nominiert. Doch wie heißt es so schön: Gewinnen kann am Ende (leider) nur Einer.

Vor den Hunden

Regie: Frank Heuel

Dramaturgie: René Reinhardt

Mit: Andreas Meidinger, Bettina Marugg, David Jeker, David Fischer, Ismail Deniz, Justine Hauer, Laila Nielsen, Maciek Brzoska, Manuel Klein, Philine Bührer

Eine Produktion von fringe ensemble, Bonn, und Schaubühne Lindenfels, Leipzig, in Kooperation mit theaterimballsaal, Bonn, und Theater im Pumpenhaus, Münster

Schaubühne Lindenfels; 10. Juli 2014


In diesem Jahr geht der Leipziger Bewegungskunstpreis an Stephanie Thiersch und ihre Compagnie Mouvoir. Das deutsch-französische Ensemble erhält den mit 5.000 Euro dotierten Förderpreis der Leipziger Freien Szene für ihr Stück „Corps étrangers“. Es entstand als Koproduktion mit dem Leipziger Lofft.

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