Lesen, Sammeln, Augenblick

Gernot Wolfram schlägt in „Der leuchtende Augenblick“ den Bogen von Paul Celan über das Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto bis zu heutigen Lesegewohnheiten

Dieser Essay Gernot Wolframs trägt im Untertitel Programm: Über Menschen und Orte des Lesens. Der Schriftsteller wurde 1975 in Zittau in Sachsen geboren und lebt heute in Berlin. Ihm wurde 1995 der baden-württembergische Landespreis für Deutsche Sprache und Literatur verliehen und 2002 der Walter-Serner-Preis. Beginnend mit der jüdischen Tradition von Synagoge und Lesehalle, verweilt er seinem Forschungsgebiet entsprechend bei Paul Celan, bringt uns nahe, was Topographie in einem Gedicht bedeuten kann und zeigt am Beispiel Benjamins, wie Literatur mit dem Flüchtenden auf die Reise geht, die Flüchtigkeit selbst als Thema und Begleiter des Lesers.

Wolfram verweist auf Paul Celan: „Ich komme aus einer Gegend in der Menschen und Bücher lebten“ und ihn verortet ihn, von Bukowina bis ganz Europa, macht seine Wanderung vom rumänisch niedergeschriebenen „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ bis hin zu seinen schneeweißen Worten in deutscher Sprache, in denen der topographische Ort Galizien, Österreich-Ungarn, Ukraine sichtbar wird. Das „Land der Dichtung“ im goetheschen Sinne wird zu kryptischen, gefrorenen Gedichten. Darüber ist oft geschrieben worden, aber dieses Buch stellt Paul Celan genau wie Walter Benjamin in die Entwicklung des Lesens oder dessen kultur-psychologische Wahrnehmung.

Das Zimmer der geschlossenen Privatbibliothek, mit den kunstvoll eingebundenen Bänden, wird Ausnahme, zwangsläufig verändert durch Krieg und Vertreibung, ein Leser wie Benjamin entsteht, dessen flüchtiges Dasein im Lesen, ein Zusammenstellen von Briefen und Augenblicken wie beispielsweise in dessen Briefsammlung Deutsche Menschen.

Wir werden mit dem Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos „Oyneg Shabes“ bekannt gemacht, in dem der Historiker Herbert Ringelblum und seine Mitarbeiter Dokumente aus der Zeit des Warschauer Ghettos sammelten, darunter Aufsätze von Kindern, Tagebücher, Zeitungen, Bonbonpapier und Straßenbahntickets, aber auch Berichte über Erschießungen und Folterungen. Unter diesen unmenschlichen Bedingungen von Hinrichtung und Schmerz, trotz grausamer Auslöschung von Verfassern und Archivaren hat das Untergrundarchiv überlebt und konnte die Arbeit ihren Zweck erreichen, denn am 18. September 1946 fand man in Warschau bei Ausgrabungen große Metallkisten und Milchkannen mit Dokumenten des Untergrundarchivs.

Leben für die Welt der Bücher, in diesem Sinne ist auch die konzeptionelle Bibliothek Amy Warburgs entstanden, die nach Sachthemen geordnet und in halbrunder Form übrigens an den Forschungslesesaal der Leipziger Albertina erinnert. Neben vielen weiteren interessanten Fragen, auch nach der Gefährlichkeit von verführender Literatur oder vom Lesen im Krankenhaus, gelangen wir zum heutigen Leser, der zwischen den Städten anwesend ist, egal ob vor dem E-Book in der Tram oder versteckt hinter einer Tageszeitung – Wolfram spricht vom nomadischen Leser.

Wie Sie sicher schon vermuten, richtet sich das Buch nicht zuvörderst an Leser, die die Bibliothek frequentieren, um einen für ihren Beruf wichtigen Abschluss zu gestalten, sondern vielmehr an jene, denen Lesen und so auch das Aufsuchen der Bibliotheken Lebensart, ja Heimat geworden ist. Ein Buch kann Lückenfüller für müßige Zeit sein, Unterhaltung und Spaß, Genesungshilfe oder Zeitzeugnis, Identifikation, Trost und Glückseligkeit bedeuten – leuchtender Augenblick eben. Gefragt wird auch, wie es in Krankenhäusern mit fremdsprachiger Lektüre für Bürgerkriegsflüchtlinge bestellt ist. Wir müssen uns kritisch fragen, ob für Menschen in Asylheimen und Abschiebehaft der Trost eines Buches in ihrer Sprache bereit steht.

Bibliothek und Lesen heute: Ein Thema das sich selbst fortschreibt wie – nach Redaktionsschluss des Buches – die Bibliothek des Maidan zeigt. So bescheiden der kleine Band Der leuchtende Augenblick daherkommt, so wichtig ist er für das Verständnis, weil er für die Geschichte der Bibliotheken und des Lesens in so schmaler Gestalt doch ganze Epochen vereint, aber auch, weil die Geschichte der Lesenden und ihrer Bibliotheken so produktiv unfertig bleibt. Ein Buch wie ein Saatkorn, über das man noch sprechen wird, wenn ein anderes Essay uns weniger zu denken gibt oder nicht mehr so empört.

Gernot Wolfram

Der leuchtende Augenblick. Über Menschen und Orte des Lesens. Essay

20 Abbildungen

Hentrich & Hentrich

Berlin 2013

144 Seiten – 14,90 Euro


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