Übertrieben harmlos

Kann man das Thema Digitalisierung zum zigsten Mal noch interessant gestalten? Gibt es zu dem Thema doch noch neue Fragen oder vielleicht sogar ein paar Antworten? Die Gruppe Interrobang versucht es − in ihrem Big-Data-Spiel „To like or not to like“ im Schauspiel Leipzig

Interrobang im Schauspiel Leipzig (Fotos: Rolf Arnold)

Die ersten Daten des Abends hat man schon hergegeben, bevor man seinen Sitzplatz erreicht: Alle Zuschauer werden fotografiert und mit einer Nummer versehen, der Sitzplatz – jeder mit einem Telefon neben sich – wird auch zugeteilt. Die zum Großteil überhaupt nicht schmeichelhaften Fotos schweben anfangs und auch später immer mal wieder zu Warteschleifenmusik in Seifenblasen über die Leinwand. Schon hier hätte man ahnen können, dass man nicht anderen beim Spielen zugucken wird, sondern vielmehr selbst der Beobachtete ist.

Was dann folgt, ist ein Feuerwerk der Fragen. Die nette Stimme am Telefon möchte wissen, mit wem von den angezeigten Menschen aus dem Publikum man am liebsten eine Japanreise machen würde, wer für einen kochen soll, wer sich in einen verlieben würde und wer am ehesten einer terroristischen Vereinigung angehört. Abgestimmt wird über die Telefontastatur, die Abstimmungsergebnisse aller werden gleichzeitig unter den Fotos angezeigt.

Die Befragung geht etwas langatmig weiter. Die Fragen decken eine große Spannbreite ab, man wird befragt zu Farben, Fotos, Bildern, zu politischen und religiösen Einstellungen. Möchte man bei Pussy Riot mitmachen? Mit einem älteren Pärchen im Garten sitzen? Ein übergewichtiger Mann, der ein Stück Pizza isst – darf der das? Die zerstörte Gedächtniskirche in Berlin – durften die das? Dann ist das Abstimmen vorbei, im Telefonhörer eine neue Stimme, ein anderer Mensch aus dem Publikum, mit dem man sich austauschen soll über eigene Erfahrungen mit Digitalisierung. Die nur sehr allgemein gehaltenen Fragen geben leider kaum Anlass, ein tiefer gehendes Gespräch zu führen, und so plaudert man eher höflich miteinander und hört sich die üblichen Phrasen zum Datenschutz an.

Später werden wir sehen, dass wir auch hier alle brav mitgemacht haben, keiner hat einfach aufgelegt. Unser Abstimmverhalten wird relativ oberflächlich ausgewertet – dafür kommen sogar das einzige Mal während der Performance Schauspieler auf die Bühne. Es wird hier lediglich angedeutet, was man aus den Daten alles schließen kann, wer alles Interesse an ihnen haben könnte. Aber all das ist ja inzwischen niemandem mehr neu: dass Daten verkauft werden, dass Krankenkassen durch digitale Beobachtung Risikopatienten gerne erkennen würden, bevor sie dazu werden, und dass Parteien durch die Auswertung von Daten der Wahlberechtigten gezielter Werbung machen können – geschenkt.

Spannender ist eigentlich die psychologische Seite. Warum stimmen wir eigentlich immer wieder mit ab? Niemand zwingt uns dazu, dennoch tippen wir eifrig unsere Meinung ins Telefon und freuen uns jedes Mal aufs Neue über das angezeigte Ergebnis. Klar, es ist eine Performance, die das Mitmachen des Zuschauers voraussetzt, doch auch Verweigerung wäre eine Form der Partizipation. Sind wir so geschmeichelt, dass sich jemand für unsere Ansichten interessiert? Ist es die schon absurd angenehme Telefonstimme oder die Tatsache, dass man sehen kann, dass alle anderen auch mitmachen? Sind wir so daran gewöhnt, uns in der digitalisierten Welt zu offenbaren, dass wir das gar nicht mehr hinterfragen? Antworten darauf kann die Performance leider nicht geben.

Am Ende bleibt man mit dem Erstaunen zurück, wie viel man aus den Daten auf die einzelne Person schließen kann, aus wie wenig Daten man die politische Einstellung, das soziale Verhalten und sogar das Verhältnis zu den Eltern ablesen kann – Daten, die man selbst leichtfertig preisgegeben hat und die einem eindrucksvoll noch einmal persönlich vorgeführt werden. Leider bleibt es nur bei diesem Erstaunen. Konsequent wäre es nun eigentlich, zu zeigen, welche Macht man dem Computer damit geschenkt hat, wie sehr der Zuschauer hier zum Objekt geworden ist, wie er sich selbst freiwillig dazu gemacht hat. Doch dieser letzte Schritt wird leider nicht mehr gemacht, die Atmosphäre bleibt übertrieben harmlos, Kinderstimmen und die schon bekannten Seifenblasen schließen den Abend. Statt erhitzten Diskussionen über Datenschutz hört man auf dem Weg nach draußen, dass sich Menschen über die rätselhaften Prophezeiungen unterhalten, die das Programm für jeden Zuschauer individuell entwickelt hat. Auch das ist vielleicht ein Fazit – solange niemand offensichtlich dreist vor unseren Augen unsere Daten missbraucht, werden wir kein Bewusstsein dafür entwickeln, wie wertvoll sie sind.

To Like or Not to Like

Von und mit: Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg

Schauspiel Leipzig; Premiere 11. Juni 2015


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.