Zehntausend Nächte pennen!

Lukas Schmelmer spiegelt im Neuen Schauspiel mit dem „Anderen“ Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“

Foto: Maximilian Teucher

Die Türen schließen sich. Im blauschwarzen Dunkel steht im Profil eine Figur auf der Bühne. Hinter ihr hängt ein Netz aus ineinander verschachtelten Bilderrahmen. Mit dieser Figur steht die Frage im Raum: Wer ist da – der Andere, Beckmann? Der Andere – der ist da!

Die Verwirrung ist der Inszenierung durchaus dienlich, denn Regisseur Lukas Schmelmer zeigt in seinem Regiedebüt den Anderen (gespielt von Tim Kahn) als das Abbild, das Echo des Kriegsheimkehrers, des von der Gesellschaft Ausgestoßenen Beckmann. Mit der Umbenennung von Borcherts Draußen vor der Tür in Der Andere rückt jener gemeinsam mit Beckmann in den Fokus des Stücks; ebenbürtig stehen sich nun beide gegenüber. Die Aufführung trägt das Motto des Gedichtes Bilder von Heiner Müller und dieses beginnt mit den Worten: „Bilder bedeuten alles im Anfang…“

Das Publikum hat Platz genommen und mit der Stille sind plötzlich die Stimmen da in der Luft – in der Nacht… Es ist ein Gewirr aus Stimmen, eine Schleife aus den Worten Beckmanns, der resümiert, wie das Leben ist: Der Himmel ist grau, man tut weh und es wird einem wehgetan. Die geloopten Stimmen überlagern sich sukzessive mit denen eines Chores, welcher aus den Seiten kriecht und sich in der Mitte der Bühne konzentriert; so wie ein Strudel, der gerade in einem großen kalten vom Sturm gepeitschten Fluss – der Elbe etwa – entsteht.

Der Chor besteht aus vier Spielenden: Johanna Ekenhorst, Mathilde Lehmann, Tom Lux und Mareike Wöllhaf. Die Gruppe kennt sich. Man hat schon in diversen Theaterprojekten der Freien Szene Leipzig miteinander gearbeitet. So erst kürzlich in Meister und Margarita. Da hatte Mathilde Lehmann Regie geführt und Lukas Schmelmer Iwan/Pontius Pilatus gespielt. Heute sind die Rollen vertauscht. Beckmann wird gespielt von Jan Heidtke, für den Der Andere sein erster großer Auftritt ist.

Nach dem chorischen Prolog spricht Beckmann den Anderen direkt an. Er sitzt am Rand der Bühne und starrt ins Nichts. „Wer ist da? Mitten in der Nacht. Hier am Wasser. Wer ist denn da?“ / „Ich.“ / „Wer ist das: ich?“ Ich ist der Andere; der, der „Ja!“ sagt, wenn Beckmann…

Und Beckmann ist in Borcherts Stück von Anfang an am Ende. Er beschreibt keinen Vektor im Raum. Vom Krieg traumatisiert und stets vor verschlossenen Türen stehend bleibt er im Grunde genommen statisch; er kreist einzig um sich. Das macht jede Inszenierung diffizil. Dieser Umstand wird genutzt, um Beckmanns Psyche mittels einer Montage aus Reinholds Schneiders Erzählung Erdbeben zu illustrieren. Im Verlaufe des Stückes entfaltet sich parallel zur Geschichte eine in sich zusammenfallende Seelenlandschaft.

Des Lebens müde ist Beckmann. Er weint, der Andere lacht. Der Andere ist der Vitalist. Er treibt an. Und allerhand hat er zu tun, denn sogleich zeigt sich, wer der Andere auch ist: „Bilder bedeuten alles im Anfang. Sind haltbar. Geräumig. / Aber die Träume gerinnen, werden Gestalt und Enttäuschung.“ Diese Enttäuschung verkörpert der Andere.

Bereits in der ersten Szene ruft Beckmann ihm: „Hau ab!“ Lukas Schmelmer hat sich dazu entschlossen, diese Absage durch den Einschub von Borcherts Antikriegsmanifest Dann gibt es nur eins! zu äußern. Dieser Text ist der letzte, den Borchert verfasst hat. Er bildet das Konzentrat aus allem Vorigen und mündet in den Appell: „Sag NEIN!“ So gewaltig dieser Text für sich stehend ist; hier stellt er einen Schlag dar, zu dem zu früh ausgeholt wird und das ist schade. Beckmanns klare Absage an den Anderen findet sich auch bei Borchert gleich zu Beginn und das macht die Stelle für jede Inszenierung gefährlich. Heute Abend wird das „NEIN!“ zum Jasager aber so eineindeutig und über den Chor zudem verstärkt expliziert, dass zu fragen ist: Was lässt sich jetzt noch sagen? Die Fronten sind allzu klar.

Gut, dass sich im Folgenden der Schauplatz verschiebt. Beckmann betrachtet den Anderen nun aus einem anderen Blickwinkel. Er projiziert auf ihn seinen Vorgesetzten im Krieg: den Oberst. Das „Ja!“ zum Leben aus dem Munde des Anderen verkehrt sich so zum „Durchhalten!“ um jeden Preis, was im Eigentlichen ein „Nein!“ zum Leben heißt.

Leider wird die ganze Szene in einer eher schummrigen Atmosphäre Ton-in-Ton in Moll gespielt. Für lange Zeit fehlt der Aufführung der Schwung. Borchert hingegen hatte sein Stück in existentieller Eile geschrieben, was sich in der sich förmlich überschlagenden Sprache niederschlägt. Und so ernst das Thema ist; Borcherts Stück strotzt vor Komik. So etwa, wenn in Beckmanns bizarren Traum ein „komischer Musiker“, der Oberst nämlich, dem Knochenmann gleich dampfendes dunkles Blut schwitzend auf ein knöchernes Xylophon eindrischt. Beim Anderen schiebt der Chor die Teile des Instrumentes langsam zusammen und auseinander und Beckmann spielt darauf; allerdings zögerlich, müde. Zudem werden die so recht leisen Klänge durch die Musik aus dem Off überlagert. Diese hatte Samuel Tadrissi eigens für den Abend komponiert und man konnte sie als etwas Bleibendes nach der Aufführung erwerben, was eine schöne Idee ist. Nur gleicht die Musik in ihrer Klangfarbe und in ihrem Tempo dem Spiel und das erschöpft sich.

Weniger an den Auswirkungen des Krieges, denn an der Orientierungslosigkeit und eben an der Erschöpfung des Einzelnen ist es dieser Inszenierung gelegen. Aber die Erschöpfung durch Erschöpfung zu zeigen, ist eher ungünstig. Dem Spiel fehlt die Fallhöhe und dem Spielenden damit der Spielraum. Bei Borchert sind die Konflikte nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Figur Beckmann zu finden. Denn nicht nur er wird enttäuscht und verraten. „Wir werden jeden Tag ermordet, und jeden Tag begehn wir einen Mord!“ – das ist die Crux. Beckmann selbst ist es, der, als er die Liebe eines Mädchens erwidert, ihrem heimkehrenden einbeinigen Mann, die Tür zuschlägt. Das Erscheinen dieser beiden Figuren hätte Beckmann heute plastischer gemacht.

Umso befreiender wirkt der Cut in der Szene, in der Beckmann vor dem Direktor eines Kabaretts tritt. Durch die Montage der absurden Fahrstuhl-Szene aus Heiner Müllers Der Auftrag, durch den radikalen Lichtwechsel und den Bruch in der Spielweise gelingt die Erzeugung eines traumartigen Spiels im Spiel. Das Stücks ist nun auch rhythmisiert. Zudem ergibt sich so eine äußerst interessante Verbindung zwischen dem Soldaten Beckmann und einem seinem Chef absolut untergegeben Angestellten. Beckmann mutiert zum Soldaten der Wirtschaft.

Auch die rückhaltlos derb gespielte Szene, in der die Elbe den Selbstmörder Beckmann einfach wieder ausspuckt, belebt das Stück und besonders eindrucksvoll wirkt der Tanz des Anderen mit Beckmann. Beckmann wird, nunmehr völlig erschöpft, kreuz und quer wie eine Puppe, wie ein Toter an der Hand des Tänzers durch den Raum getrieben. Der Andere tanzt Beckmann.

Diese Bilder sind es, die der Aufführung gegen Ende eine groteske Atmosphäre verleihen, welche dem Stück angemessen ist. Nun schaut man anders auf den Anderen, als zum Schluss, wenn sich der Kreis schließt, das Echo auf Beckmanns Rufen ausbleibt.

Der Andere

Theaterstück nach Motiven aus Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür

Regie: Lukas Schmelmer

Musik: Samuel Tadrissi

Bühne: IO

Mit: Jan Heidtke, Tim Kahn, Johanna Ekenhorst, Mathilde Lehmann, Tom Lux, Mareike Wöllhaf

Neues Schauspiel Leipzig; Premiere: 11. Juni 2015


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