Romeo und Julia im Big Apple

„West Side Story“: Die Abschlussproduktion der Spielzeit an der Oper Leipzig wird frenetisch gefeiert

Vorne kämpfen Riff (links, Andreas Wolfram) und Bernardo (Rupert Markthaler), die Jets schauen zu. (Fotos: Ida Zenna)

Die West Side Story wird gern als die Urmutter aller Musicals bezeichnet. Leonard Bernstein adaptiert das Romeo-und-Julia-Thema und verlegt dessen Handlung in den Schmelztiegel New York. Zugleich verknüpft er die großen amerikanischen Gesellschaftsfragen von Einwanderung und Chancengleichheit miteinander. Dies nimmt die Oper Leipzig zum Anlass ihre Spielzeit 2014/15 unter dem Motto Opera goes Musical ausklingen zu lassen.

Für diese Produktion fährt die Oper die ganz großen Geschütze auf: Spartenübergreifend sind sowohl das Ballett und das Opernensemble sowie der Opernchor mit von der Partie. Mario Schröder zeichnet für die Inszenierung und die Choreografie verantwortlich und Ulf Schirmer gönnt sich die musikalische Leitung über ein gut aufgelegtes Gewandhausorchester. Zugleich schart die Oper ein Solistenensembles für diese Aufführung zusammen, das in der Welt der großen Musicalproduktionen von Hamburg über Berlin bis Stuttgart einigen Rang und Namen besitzt.

Zur ausverkauften Premiere im Leipziger Opernhaus nimmt das Publikum Anteil an der außergewöhnlichen und tragischen Liebesbeziehung zwischen Tony und Maria. Beide gehören rivalisierenden Straßengangs an. Doch trotz aller Widerstände wollen sie sich ein gemeinsames Leben abseits aller Feindschaft, Kriminalität und dem Gegensatz zwischen Einwanderern aus Lateinamerika und weißen Amerikanern aufbauen. Doch scheinen sie tiefer in den festgefügten Strukturen der Jets (Tony als Mitbegründer) und Sharks (Maria ist die kleine Schwester des Bandenchefs Bernardo) verankert zu sein, als sie zunächst glauben. Zunächst jedoch verdient ihre junge Liebe, zugleich auf den ersten Blickerfolgt, allen Widerständen und Heimlichkeiten zum Trotz ein Chance.

Das wirklich schöne Bühnenbild zeigt ein raues, wenig glamouröses New York. Der Zuschauer schaut auf die langen, tristen und grau-faden Asphaltmeilen, gepaart mit den obligatorischen Stahlträgern und Backsteinfassaden des Molochs abseits Manhattans. In dieser Kulisse versuchen die Mitglieder der konkurrierenden Banden aus ihrem wenig aussichtsreichen Leben so etwas wie Hoffnung auf ein besseres Dasein, auf Anerkennung und Respekt zu ziehen. Die große Opernbühne erreicht durch geschickte Lichttechnik und den Einsatz verschiedener mit Videoprojektionen bezogener Leinwände die Ansicht einer typischen amerikanischen Großstadt, wobei durch Licht und Schatten eine erstaunliche Weite und Tiefe suggeriert wird.

Carsten Lepper zeigt einen Tony, der schon längst mit seinem Gangleben abgeschlossen hat und versucht in einer „bürgerlichen“ Welt abseits von Gewalt, Kriminalität und Armut sein Auskommen zu finden. Mit einer nahezu kindlich-naiven Sicht auf die vor ihm liegende Zukunft versehen, scheint er das Gute im Menschen den schlechten Rahmenbedingungen gegenüberzustellen, wissend, dass dies nur eine Wunschvorstellung sein kann. Die Liebe zu Maria gibt ihm dennoch Hoffnung auf ein besseres Leben. Myrthes Monteiro verkörpert Maria hauchzart und zerbrechlich. Dabei fordert ihre Figur nachdrücklich ihren Platz im Leben, natürlich aus der etwas eingeschränkten Sichtweise des stets wohlbehüteten Nesthäkchens der Familie, das die schlechten Seiten der neuen Heimat nur aus den Erzählungen ihres direkten Umfeldes kennt. Nicht zuletzt Erdmuthe Kriener als Anita, die fast mütterlich agierende Freundin von Maria und am Ende tragisch agierende Freundin des Bandenchefs Bernardo und Eduard Burza als Doc, der vom Leben resignierte und dahin vegetierende väterliche Freund Tonys sind bestens besetzte Nebenrollen.

Mario Schröder inszeniert diese Produktion nicht ausschließlich als reines Musical. Die Elemente des Schauspiels und des Tanzes nehmen mehr Raum ein als man üblicherweise bei einer Musicalinszenierung erwartet. Durch das fulminante Zusammenspiel der Balletttänzer als jeweilige Gangmitglieder oder Polizisten erreicht die Inszenierung eine ungeahnte Tiefe und Ernsthaftigkeit ohne zu bemüht zu wirken. Die Kampfszenen zwischen Bernardo (Rupert Markthaler) und Riff (Andreas Wolfram als Vin-Diesel-Anleihe) entfalten eine mitreißende Dynamik und wirken in keiner Sekunde aufgesetzt. Die Balletttänzer agieren mit einer Menge Spielfreude und drücken sich diesmal nicht nur durch ihre Körper und die Beine aus, sondern nehmen ihre Rollen als mitwirkende Figuren auch in ihren mehr oder minder umfangreichen Sprechrollen durchaus ernst.

Das Gewandhausorchester unter der musikalischen Leitung von Ulf Schirmer spielt gewohnt routiniert auf. Die sich abwechselnden Stile der Musik, mal begleitend, mal nur die Szenerie untermalend und dann wieder – teils extrem dissonant oder elegisch fließend – wie Filmmusik dramatisierend, zeigen eine ungemeine Vielfalt. Ein wirklich toller Coup gelingt durch den Einsatz des Opernchores: Dieser ergänzt stimmlich das Ballett, das als elementarer Teil dieser Produktion dient. In keiner Sekunde fällt auf, dass die Balletttänzer ihrem Metier treu bleiben und mit ihren Körpern agieren, während die Sänger diesen Figuren ihre Stimmen leihen.

Leider erreicht die Aufführung ihren Höhepunkt mit dem Kampf der beiden Gangchefs und dem Mord an Bernardo durch Tonys Hand. Die kleine, wohlverdiente Pause lässt im zweiten Akt der Aufführung eine gewisse Hektik aufkommen. Es gelingt nicht richtig an den ersten Akt anzuknüpfen. Die Szenen werden deutlich schneller abgehandelt und bis zum unweigerlich tragischen Ende, der die Liebenden ihrer Hoffnungen und Zukunft beraubt, bedient man sich ein paar szenenfüllenden inhaltlichen Kniffen. Alles in allem wird das Ensemble am Ende mit minutenlangem, geradezu frenetischem Applaus bedacht, so dass man davon ausgehen kann, dass das Leipziger Publikum sich gut unterhalten fühlte.

So kann nur auf die folgenden acht weiteren Aufführungstermine bis in den Juli hinein verwiesen werden, in dem man als geneigter Operngänger die Möglichkeit hat, sich dieses Sparten- und genreübergreifende Spektakel anzuschauen.

West Side Story

Dirigent: Ulf Schirmer

Inszenierung, Choreografie: Mario Schröder

Mit: Myrthes Monteiro, Erdmuthe Kriener, Laura Costa Chaud, Anna Preckeler, Amelia Waller, Stéphanie Zsitva-Gerbal, Meimouna Coffi, Sampaguita Mönck, Jane-Lynn Steinbrunn, Carsten Lepper, Andreas Wolfram, Rupert Markthaler, Ronan Dos Santos Clemente, Tom Schimon, Oliver Aagaard-Williams, John Andreas Langsch, Joshua Swain, Oliver Preiß, Bjarte Emil Wedervang Bruland, Piran Scott, Nikolaus Tudorin, Kiyonobu Negishi, Robert Bruist, Jonathan Augereau, Bogdan Muresan, Eduard Burza, Cusch Jung, Hans-Georg Pachmann, Loris Kubeng, Opernchor, Leipziger Ballett, Gewandhausorchester

Oper Leipzig; Premiere 20. Juni 2015


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