Das Spiel mit dem Ich – über Täuschung und Enttäuschung

DOK Leipzig: „The Anima Profile“ reißt viele Themen an, die in unserer vernetzten Welt Brisanz besitzen. Und dennoch hinterlässt der Film der Kanadierin Sophie Deraspe am Ende hauptsächlich Enttäuschung

„The Anima Profile“ spielt mit dem Gutglauben der Zuschauer. (Foto: DOK Leipzig)

Erste Worte ploppen auf der Leinwand auf: „Hello, thank you for adding me”. Fotos werden ausgetauscht. Vor den Augen der Zuschauer nähern sich zwei Menschen an. Über tausende von Kilometern hinweg lernen sich Sandra aus Montreal und Amina aus Damaskus online kennen. Es entwickelt sich aber nicht nur eine erotische Bindung zwischen den beiden, sondern auch eine Liebesbeziehung. Und dann schlägt mit voller Wucht der Arabische Frühling zu. In Ägypten und Tunesien gehen die Leute auf die Straße und fordern Veränderungen. Diese Welle schwappt auch auf Syrien über. Amina überlegt einen Blog zu starten und über die Ereignisse zu berichten. Sandra ermutigt sie darin. „The Gay Girl from Damascus” entsteht und kann peu à peu mehr Follower erreichen.

Regisseurin Sophie Deraspe versucht dieser Beziehung und den Ereignissen zu folgen und Bilder für sie zu finden. Sie changiert zwischen Interviews, inszenierten Szenen aus Syrien und YouTube-Videos. Und immer wieder Chats zwischen den Sandra und Amina. Sandra beginnt sich wegen der Unruhen Sorgen zu machen. Und als Zuschauer erinnert man sich wie das eigentlich „damals” alles anfing. Bevor Bomben in Syrien fielen, als es noch um die Erlangung von Freiheit ging und nicht nur um das nackte Überleben in einem chaotischen Land.

In diesem Teil des Films steht das starke Thema klar über der Form und nimmt den Zuschauer vollkommen ein. Doch nach einem Drittel wandelt sich die Geschichte und wird zu einem ganz neuen Film. Als Amina gekidnapped wird, starten diverse Blogger und andere Organisationen wie The Electronic Intifada Aminas Freilassung zu fordern. Vor allem westliche Medien springen auf diese Geschichte an, The Guardian, The New York Times, alle sind sie dabei. Aber ganz langsam stellt sich heraus, dass nicht alles so ist wie es zu sein scheint und eine neue Frage steht im Raum: „Is she real?”

Was sich nun entspinnt, offenbart eine Perversität auf vielen Seiten. Auf der einen Seite steht die Perversität der sozialen Medien bzw. von Internetrealitäten. Was schon in den Chatrooms der 1990er Jahre ein Problem war, hat sich bis heute nicht gelöst: Man weiß eigentlich nie wirklich, mit wem man es zu tun hat, wenn man ihn online kennenlernt. Hinter jedem Facebook-Profil lauert potenziell die Möglichkeit eines Fakes, es sei denn man kennt die Person schon aus dem realen Leben.

Auf der anderen Seite zeigt es auch wie leicht heute die Medien durch soziale Netzwerke in die Irre zu führen sind. Eine lesbische Frau in Syrien, die sich über ihren Blog ganz offen gegen das Assad-Regime äußert, muss man einfach gut finden und unterstützen. Die Flut an Bildern und Worten, die aus den arabischen Ländern während der Revolutionen in den Westen gedrungen sind, sind oft nicht verifiziert, werden aber trotzdem als Wahrheit verkauft und sind Grundlage für das hiesige Storytelling über diese Regionen.

Und dann ist da natürlich noch Sandra, die ganz persönlich von den neuen Entwicklungen betroffen ist.

Über die grundlegenden Ereignisse von The Amina Profile wurde in der Presse berichtet. Kennt man die Berichterstattung, ist der Film nur eine nette Zusammenfassung des Geschehens. Kennt man sie nicht, bekommt man zumindest für 2/3 der Zeit einen spannenden Film zu sehen, der Wendungen aufweist und trotz seiner formal schwachen Darstellung zu fesseln weiß. Für alle Nichtkenner entpuppt sich der Film dann aber auch als Fake. Er spielt mit dem Gutglauben der Zuschauer, lässt sie zu Beginn denken, wirklich eine Liebesgeschichte zu erleben, wirklich die Sorgen einer syrischen jungen Frau zu teilen. Umso größer zeigt sich dann die Enttäuschung, dass es darum gar nicht ging. Man fühlt sich betrogen. Da hilft es auch nicht, dass The Amina Profile viele wichtige Themen streift, die Wut über die Nichterfüllung überwiegt.

The Amina Profile

Kanada 2015, 84 Minuten

Regie: Sophie Deraspe

DOK Leipzig 2015

Next Masters Wettbewerb

Filminfos auf www.dok-leipzig.de

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