Träume von Freiheit

DOK Leipzig: „Könige“ begleitet mit wohlwollendem Blick eine Gruppe Obdachloser in Bielefeld

Einer der Protagonisten aus „Könige“. (Foto: DOK Leipzig)

Michael droht die Zwangsräumung seiner Wohnung, was sein Sozialhelfer zu verhindern sucht. Auf der Straße zu leben, wäre für Michael eine Schmach, sagt er in seinem Bielefelder Slang. Fast schon verächtlich, auf jeden Fall mitleidig, aber auch mit viel bitter-ironischem Humor blickt der ca. 50- bis 60-Jährige auf die Gruppe Punks, neben denen er sich viel rauchend seine Biere einverleibt. Einer aus dieser Gruppe ist Ben. Er hat eine Haftstrafe verbüßt und lebte davor schon einige Jahre auf der Straße. Einst führte er ein geregeltes Leben mit einem bürgerlichen Beruf, erzählt er in die Kamera. Zu ihm bauen die beiden Filmemacherinnen Hristina Raykova und Lisa Block das intensivste Verhältnis auf. Er zeigt sich ihnen mit seinen Sehnsüchten nach einer gerechten Gesellschaft und unbewusst auch mit selbstzerstörerischen Schwächen.

Könige ist das Porträt einer Gruppe von Menschen, die bis auf einen spontanen Ausflug nach Köln in Bielefeld auf der Straße lebt oder wie Michael von Wohnungslosigkeit bedroht ist. Alle haben eine bewegte Geschichte hinter sich mit Drogen, Knast, Heimerfahrung, aber auch mit Eltern, die reich waren oder wohlmeinend anthroposophisch orientiert. Zu dieser Gruppe gehört auch Knüppel, der einen Sprachfehler hat, Chris, dem beim Betteln die flotten Sprüche nie ausgehen und – etwas abseits stehend – ein studierter Theologe, der im Auftrag der Heilsarmee versucht, eine Anlaufstelle mit genügend Keksen, Getränken und einem stets offenen Ohr zu bieten.

Der Film begleitet die Protagonisten einen Sommer lang. Sie eint der Wunsch nach einem Ort, der Rückzug für sich und eine Familie verspricht oder Möglichkeiten der freien Gestaltung. Als Raum, Wohnung oder Bauernhof mit Frau und Kind, ohne die eigene Freiheit einzubüßen. Das ist die Freiheit vor der Bevormundung der Gesellschaft und des Staates, ein Ideal von einer gerechten Gesellschaft nicht aufgeben zu müssen und eben nicht in einer Doppelhaushälfte zu landen. Sie bedeutet aber auch Leere, Stagnation, in den Jahren des Lebens auf der Straße nicht spürbar voranzukommen. Dieses Leben wird zur Gewohnheit, in dem sich alles um die Kumpels, die Dienste der sozialen Einrichtungen, die Frisur und das Betteln dreht und insofern in „geregelten Bahnen“ verläuft. Knüppel hat sich nach Jahren eines solchen Lebens doch eine Wohnung genommen. Er schlägt sich fortan mit Armut und starren Regeln des Staates durch Arbeitsamt und Polizei beim Verbüßen einer Bewährungsstrafe herum.

Hristina Raykova und Lisa Block zeigen in ihrer Abschlussarbeit die Protagonisten in Nahaufnahmen und in ihrer Umgebung, dem Platz vor der örtlichen Fastfood-Kette, auf der Parkbank oder unterwegs in der S-Bahn. Körperliches Elend etwa durch die Folgen eines Drogenkonsums oder Krankheiten bleibt fast gänzlich außen vor, ebenso die Härten der kalten Jahreszeiten. Lediglich Ben erzählt von seinem besten Freund, der, des Kölner Hauptbahnhofs verwiesen, stark alkoholisiert erfriert. Könige ist kein Film über Obdachlosigkeit im Allgemeinen. Dazu fehlen einordnende Fakten wie die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen, die auf der Straße leben, ihre häufigsten Todesursachen, wie viele Jahre sie auf der Straße leben, oder wie sehr sie Hilfseinrichtungen in Anspruch nehmen — von Dunkelziffern ganz zu schweigen. Auch andere Gruppierungen von Menschen, die unterwegs sind, wie Menschen auf der Walz, Pilgerer oder Weltreisende, werden nicht thematisiert.

Stattdessen ist der Film das wohlwollend-subjektive Porträt einer Gruppe von Menschen auf der Suche nach ihrem Glück, in deren aller Leben der Mitarbeiter der Heilsarmee eine Rolle spielt. Sie entscheiden mit, welchen Teil von sich sie preisgeben wollen und lassen dabei sicher etliches aus. Es stellt sich die Frage, wie repräsentativ dieses Porträt ist und wie sehr sich Wohnungslose als Opfer oder selbstbestimmt wahrnehmen. Welches Bild von Obdachlosigkeit in Deutschland haben wir, welches wollen wir sehen, welches können wir zulassen? Und wie unterschiedlich oder ähnlich erleben Betroffene ihre Situation? Sicherlich liegen der Wunsch nach Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen und das Leiden an diesen nicht so weit auseinander. Ein Nachdenken darüber zeigt jedoch auch, wie viel von Menschen, die ohne Wohnung leben, unbekannt ist.

Könige

Deutschland 2014, 83 Minuten

Regie: Hristina Raykova und Lisa Block

DOK Leipzig 2015

Deutscher Wettbewerb

Filminfos auf www.dok-leipzig.de

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